Eisrose

Diese Nacht lag Melody lange wach und dachte nach. Wie in Trance durchlebte sie noch einmal den vergangenen Tag. Zuerst schien alles normal zu sein, doch dann kam der große Überfall. Eigentlich war Melody am Morgen nur zu Hause geblieben, weil sie Magenschmerzen hatte, doch das änderte sich rasch, nachdem ihre kleinere Schwester aus dem Haus war und sie sich wieder ins Bett gelegt hatte. Es waren gerade mal 20 Minuten vergangen, sie war halbwegs eingedöst, da öffnete sie die Augen und starrte auf einen weißen Kittel. Als Melody blinzelte erkannte sie, dass der Kittel den Körper einer etwas gedrungenen Dame bekleidete, die vor ihrem Bett stand und sie besorgt ansah. "Tut mir Leid, dass ich Sie wecken muss, aber Ihre Mutter muss ins Krankenhaus!", sagte die Dame bestimmt, "Sie sagte mir ich würde nicht alles finden, was sie mitnehmen will, und ich solle Sie wecken, damit Sie mir helfen!"

Sofort war Melody hellwach, sprang aus ihrem Bett und folgte der Dame ins Wohnzimmer. Dort fand sie ihre krebskranke Mutter vor, die auf die Seite gerollt auf dem elterlichen Doppelbett lag und alle paar Sekunden wegdämmerte, um dann wenig später wieder zu erwachen und die Dinge zu begutachten, die in ihrem Koffer landen sollten. "Ich hab es ja geahnt!", dachte Melody bei sich, während sie wie eine ferngesteuerte Marionette durch die Wohnung lief um den Koffer ihrer Mutter zu füllen. Sie hatte zwar nie eine besonders gute Beziehung zu ihrer Mutter gehabt, da sie sich täglich gestritten hatten, aber Melody besaß einen ausgeprägten Sinn für Hilfe, der ihr sagte was sie zu tun hatte. Als der Koffer endlich fertig gepackt war, folgte eine lange Zeit des angespannten Schweigens, bis endlich der Krankenwagen vor dem Haus hielt und die Sanitäter mit einer Tragedecke das Wohnzimmer betraten. Widerwillig drückte Melody ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und half den Sanitätern beim Tragen durchs Treppenhaus.

Vor dem Haus wurde ihre Mutter auf eine Trage gelegt und in den Krankenwagen geschoben. Währenddessen brachte die Haushaltshilfe, die kurz  vor den Sanitätern eingetroffen war, den Koffer herunter und übergab ihn einem der Sanitäter, der ihn zu Melodys Mutter in den Krankenwagen stellte und selbst mit einstieg. Die Türen klappten zu, der Motor heulte auf und schon war der Wagen aus der Sichtweite der zwei verschwunden. Der Rest des Tages verlief für Melody schleppend und träge. Jedes Mal wenn sie das Wohnzimmer betrat durchlebte sie noch einmal den gesamten Ablauf des Vormittages. Ja, so war es gewesen.

Und nun lag sie da und dachte nach. Es war ja nicht genug gewesen, dass sie Schwierigkeiten in der Ausbildung hatte. Nein, das Schicksal musste es ja unbedingt auf die Spitze treiben.

Am nächsten Tag blieb sie auch zu Hause wegen Magenschmerzen und ging zum Arzt. Tags darauf, es war Samstag, der Tag der Show vor familiären Gästen. Melody wollte nur noch eins: Die Show möglichst perfekt und fehlerfrei und vor allem so schnell wie möglich hinter sich zu bringen ohne sich vor ihrer Freundin für ihre mangelnde Konzentration rechtfertigen zu müssen. Der Lohn für diese Mühe waren Applaus und begeisterte Menschen zweier Familien, die sich an jenem Abend, nur um diese Show zu sehen, mitunter 2 Stunden Autofahrt und mehr auferlegt hatten. Nach dem Auftritt fiel sie erschöpft ins Bett und wachte bis Sonntagmittag nicht wieder auf. Auch an den darauf folgenden Tagen besserte sich Melodys Laune nicht. Eher wurde sie von Tag zu Tag wehmütiger und wütender. Dass sie nun als Ersatzmutter für ihre jüngere Schwester herhalten musste, die der reinste Zickenzwerg war und immer wieder Blödsinn machte, machte Melody am meisten zu schaffen. Als ihre Mutter sie bei einem Telefonat in der nächsten Woche auch noch als zu faul beschimpfte, weil sie ihr gesagt hatte sie käme nicht ins Krankenhaus, da sie schon einmal da gewesen war obwohl sie Krankenhäuser überhaupt nicht leiden konnte, kriegte Melody fast zu viel. "Schön, dass ihr fast alle dafür sorgt, dass ich wieder zu einer Eisrose werde!", dachte sie entrüstet, "Außen eiskalt und innen doch so leicht zu verletzen und herzlich, aber für einen formellen Botendienst bin ich ja dann doch wieder gut genug!"

 

 

 

©Sabrina Goebel

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