Die Nacht war sternenklar, als ich fort lief.
Immer und immer wieder sah ich mich um.Drei Männer in schweren Rüstungen verfolgten mich und holten zu allem Übel immer mehr auf. Während ich so dahin stolperte und ihnen immer wieder auszuweichen versuchte, erinnerte ich mich an den Grund meiner Flucht.Es war vor zwei Tagen. Meine Stiefschwester, die Prinzessinnen Lucy-Cleo-Angelica-Martha-Mary-Eclair-Antoinette-Dorothea von und zu Majestis, kam von einer Reise mit meiner Stiefmutter zurück. So hochnäsig ihr Name klingt ist sie auch. Dauernd gibt sie mit ihren Kleidern und Ketten an und zieht über unsere Bediensteten her. Wie dem auch sei...Kaum war sie wieder zurück, ließ sie mich keine Sekunde aus den Augen. Wir konnten uns zwar von Anfang an nicht leiden,aber das war wirklich übertrieben und lästig. Egal was ich auch tat, ständig spionierte sie mir nach und erzählte es hinterher ihrer Mutter und meinem Vater. Ob ich nun badete oder im Musikzimmer sang war völlig egal. Sie bekam alles mit.
Und heute?
Nun, heute hatte sie es geschafft ihre Mutter und meinen Vater davon zu überzeugen,dass ich daran Schuld sei,dass unser Land arm war und sie nicht genug Platz hätte. Dabei hatte sie den ganzen Ostteil des Palastes für sich und unser Land war nur arm, weil wir noch keine neue Goldmine ausfindig machen konnten. Sie meinte sogar ich würde mich nachts ins Dorf schleichen, um dort mit jemandem zu reden. Und da war ich nun.Halb erfroren saß ich im Gartenlabyrinth des Palastes. Genauer gesagt in dessen Mittelpunkt.Auf einer Steinbank vor dem Brunnen. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich. Das Wasser des Springbrunnens plätscherte. Ganz in der Nähe hörte ich das Scheppern von den Rüstungen der Wachen. Es waren nicht mehr drei, sondern sechs Verfolger. Was war jetzt zu tun? Wohin sollte ich laufen?
Lange überlegte ich hin und her. Plötzlich hörte ich eine der Wachen rufen. "Dort auf dem Platz muss sie sein!" Erschrocken riss ich die Augen auf, raffte den Saum meines Kleides und rannte los. Glücklicherweise fand ich diesmal auf Anhieb den Ausgang des Labyrinths. Wie ein gehetzter Hund rannte ich über die kleine Brücke und durch die Alleen des riesigen Palastgartens, den dereinst mein Großvater anlegte. Ich wurde kalkweiß im Gesicht, als ich beim Laufen daran dachte. Großvaters Geschichten. Derer erzählte er mir viele seit ich gerade fünf Jahre alt war. Alle waren normale Kindergeschichten, nur eine nicht. Jene, die er mir eine Woche vor seinem Tod so detailliert erzählte war mysteriös. Es ging um ein Mädchen, das von der Garde ihres Vaters gejagt und durch einen riesigen Garten getrieben wurde, der dem unseren bis ins kleinste Detail ähnlich war. Verfolgt von der Garde rannte es über eine Bachbrücke und durch zehn Alleen. Später vorbei an einer gebogenen Tanne und sechs Torbögen aus Efeuranken. Um dann völlig außer Atem vor einem anderen Torbogen stehen zu bleiben, vor dem zwei steinernde Engel mit ausgebreiteten Flügeln thronten. Der eine rechts und der andere links.
Dort endete Großvaters Geschichte.
Wie in Trance tat ich es dem Mädchen gleich. Irgendwie musste ich ja den Wachen entkommen. Und wirklich. Ich kam zu besagtem Torbogen.Doch dort, wo sonst üblicherweise ein Metalltor hätte sein müssen, war eine Wand aus dicken grünen Ranken. Ich versuchte mich an das zu erinnern, was Großvater mir immer sagte. Wie meinte er immer? Ach,ja, so war es. "Finde im Traum den roten Engel. Ruf ihn. Steht alles in Flammen, dann flüstere drei mal 'Porta post portam' und ich bin bei dir." Das sagte er mir jeden Abend nach seinen Geschichten. "Steht alles in Flammen...", überlegte ich und sah mich hektisch um. Plötzlich sah ich zwei steinerne Fackeln in den Händen der Engel. Jeder hielt eine und beide brannten. Jedenfalls bildhaft. Das könnte er damit gemeint haben. Ich hatte nicht viel Zeit also versuchte ich es. Mein Gesicht erhob ich gen Himmel und flüsterte dreimal "Porta post portam". Wie durch ein Wunder öffnete sich die Wand aus Ranken wie ein Vorhang, den man aus Theatern kennt, und geben eine Treppe in den Boden frei. Ohne groß nachzudenken schritt ich eilig hindurch und stieg die Treppe hinab ins Ungewisse. Kaum war ich auf der Treppe, schlossen sich die Ranken wieder. Also setzte ich meinen weg fort.
Großvater war ja schon immer etwas anders als meine Familie sonst. Eine Hälfte seines Gesichtes bedeckte er mit einer Maske, obwohl er eigentlich keine benötigte. Er war es auch, der mir all die vielen mysteriösen alten Sprachen und das Singen lehrte, ohne das Vater und Mutter etwas davon wussten. Seine Stimme klang Atemberaubend und verzauberte mich jedes Mal aufs neue, wenn er mir das Lied, was er mir lehren wollte vorsang, damit ich mir die Melodie und die Aussprache merken konnte. Er hätte Eisberge zum Schmelzen bringen können, wenn er sang. Je tiefer ich unter dem Boden war, desto mehr erinnerte ich mich an ihn und an alles, was er mich lehrte. Es war sonderbar. Die Treppe entpuppte sich als weit ausschweifende Wendeltreppe, die scheinbar endlos zu sein schien. Wenigstens besaß sie ein Steingeländer, sodass ich keine angst haben musste an der Seite herunter zu fallen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Wieder tauchten die Bilder von damals vor meinen Augen auf. Diesmal von dem Tag an dem Mutter starb. Ich war erst zehn und der schlag traf mich hart. Vater sagte sie würde nur schlafen, doch ich wusste dass er log. Großvater hatte es mir kurz zuvor erzählt.
Als ich sie mir noch ein letztes Mal ansehen durfte, lag sie in ihrem Gemach auf dem Bett wie ein Engel. Aufgebahrt auf einem roten Seidentuch und bekleidet mit einem wallenden weißen Kleid aus Samt mit einem einzigen roten Stück, was den Brustteil bildete. Mein Großvater erntete damals einen Tag nach ihrem Tod einen mächtigen Streit mit Vater, weil er auf dem Gemach von Mutter ein Lied sang, das Vater nicht verstand. "Was fällt euch ein André!", zeterte Vater. Ich konnte alles durch die Wand meines Gemaches mit anhören. "Was mir einfällt mein lieber Simoñ? Ich befolge nur den letzten Wunsch meiner Tochter. Eurer Frau! Mein lieber Simoñ, Ihr habt Euch verändert! Kaum ist Charlotte tot habt Ihr schon mit einem anderen Weib einen Pakt geschlossen! Ihr solltet Euch schämen!", konterte Großvater enttäuscht. Dann gab es einen Knall und etwas fiel zu Boden. Unter Tränen schlief ich ein. Am Tag darauf stellte Vater mir Lucy und ihre Mutter vor und erzählte mir, dass Großvater auf der Rückreise zu seinem Schloss verunglückt sei und nicht wiederkehren würde.
Damit fing alles an.
Anscheinend war ich durch diese Bilder so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass ich schon über die Hälfte der langen Wendeltreppe hinter mir gelassen hatte. Einen Moment setzte ich mich auf eine der Stufen, stützte meinen Kopf mit den Händen und schloss die Augen. Ob die Wachen immer noch dort oben herum irrten? Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich wusste es nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Hier unten war es so wunderbar ruhig und langsam begann mein Körper sich zu entspannen. Ich stimmte eines von Großvaters Liedern an und setzte meinen Weg fort. Immer weiter die lange Wendeltreppe hinunter. Es war Großvaters Lieblingslied gewesen, das ich nun sang. Tagelang hatte er es mit mir geübt. Wie stolz war ich gewesen als ich es das erste mal alleine singen konnte ohne dass er mir half. Voller Freude war ich in seine Arme gesprungen und hörte ihm zu, wie er das Lied als Antwort noch einmal sang. Auch heute legte ich so viel Gefühl wie möglich in dieses Lied. Erst traute ich meinen Ohren nicht, doch dann spürte ich diese Magie, die nur Großvaters Stimme hatte.
Ungläubig ging ich den Rest der Wendeltreppe in aller Hast hinunter und gelangte in einen langen Gang. Ja, irgendwoher kam seine Stimme.Ich begann zu laufen. Wie konnte das möglich sein er war doch tot! Oder doch nicht? War das alles eine Lüge? Wie im Wahn rannte ich den Gang entlang und folgte der Stimme. Dann versperrte mir etwas weiches den Weg. Staub rieselte auf mich herunter. Beim Niesen bemerkte ich, dass es ein Vorhang war gegen den ich gelaufen war.Allerdings ein sehr staubiger. Aber das war jetzt nebensächlich. Ich hörte wieder diese magische Stimme, die nur von meinem Großvater stammen konnte. Da war aber noch etwas. Eine zaghaftere Stimme, die zwar nicht so laut aber trotzdem klar, rein und ebenso magisch klang. Ich atmete noch einmal tief ein und trat durch den Vorhang. Der Gesang verstummte und ich war für einen Moment geblendet. Als ich wieder sehen konnte, traute ich meinen Augen nicht. Überall standen brennende Kerzen und mir gegenüber drei mir nur zu gut bekannte Menschen, von denen einer für tot erklärt worden war. "Großvater...", stammelte ich überrascht und verwundert, "Onkel Francoir, Tante Clair!"
"Rose-Clair-Charlotte,mein Kind,...", sagte Großvater weit weniger überrascht und breitete seine Arme aus. Ich rannte zu ihm und erzählte alles. Lucys Lüge, die Flucht und meinen Weg hier hinunter. Francoir und Clair streichelten mir den Rücken. "Es ist vorbei, Rose.", versuchte Tante Clair mich zu beruhigen, doch es nützte nichts. Ich war so wütend auf Lucy und Vater, dass ich meine Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Da hob Großvater mein Gesicht an, sodass ich in seines sehen konnte. "Rose, jetzt wird alles gut. Du bekommst deine Gerechtigkeit, mein Kind.", sagte er zu mir. Zu Francoir und Clair sagte er nur:"Die Zeit ist gekommen!" "Was für eine Zeit, was habt ihr vor?", schluchzte ich. "Die Zeit der Aufklärung und der Gerechtigkeit.", erwiderte er. "Es gibt einen Grund warum ich dir jene uralten Sprachen lehrte. Und auch die Lieder." -"Und der wäre?" -"Du brauchst sie für das Lied der Kraft. Das Lied der "roten Engel"." -"Die roten Engel?" -"Ja, der geheime Bund für Gerechtigkeit." -"Und wer ist das genau?" -"Francoir,Clair, ich und Charlotte." -"Aber Mutter ist tot!" -"Gewiss, doch ihr letzter Wille war es, das du ihren Platz einnimmst, wenn es notwendig ist." -"Also jetzt?" -"Ja, mein Kind, du willst doch Gerechtigkeit oder?" -"Gewiss Großvater." -"So sei es dann, doch zuvor solltest du die Wahrheit über deinen Vater erfahren." -"Welche Wahrheit?" -"Charlotte würde noch leben, hätte er sie nicht mit Hilfe von Lucys Mutter Antoinette vergiftet." -"Sie haben Mutter getötet?!?" -"Ja, Simoñ war darauf versessen zu herrschen und selbst zu regieren. Egal was er dafür tun musste. Und da er wusste, dass ich ihn unabsichtlich dabei beobachtet hatte, wollte er mich kurzerhand in die ewigen Jagdgründe schicken, indem er meine Kutsche angreifen ließ. Für ihn sah der Plan erfolgreich aus, aber wer dachte denn auch daran, dass seine Schützen mir nur einen über den Kopf donnerten und mich dann liegen ließen. Seitdem bin ich hier und warte auf eine Gelegenheit eine(n) gerechte(n) König(in) an seiner Stelle auf dem Thron zu wissen." -"Dieser Schuft!Und an wen hattest du da gedacht?" -"An dich!" -"An mich? Aber wieso?" -"Du bist gerecht und großherzig und es war der Wunsch deiner Mutter." -"Gut, wenn es der einzige Weg ist den Verräter vom Thron zu stürzen, nehme ich Mutters Platz ein. Ich habe auch schon einen Plan."
Und so kam es.
Ich wurde wie Mutter ein "roter Engel" und wartete auf den nächsten Tag. Sehr lange dauerte es nicht, schon kam Großvater und weckte mich."Es wird Zeit. Das Spiel der Gerechtigkeit beginnt!", sagte er aufmunternd und reichte mir ein langes rotes Cape. Ich legte es mir über die Schultern und befestigte es mit einer flügelähnlichen Schnalle vor meinem Hals. "Wie Charlotte.", sprach Großvater und verließ die Kammer.Ich folgte ihm und warf mir die weite Kapuze des Capes über den Kopf. Kurz nach ihm betrat ich die Halle mit den Kerzen. Clair und Francoir warteten schon und trugen ebenfalls Capes mit den Kapuzen über den Köpfen. Auch Großvater legte sich eins an. Als er fertig war blickten alle drei auf mich. Ich grinste siegessicher und nickte kurz. Dann lief ich durch den Vorhang zum Gang und zur Treppe. Sie folgten mir. Die Capes flogen nur so während wir die lange Treppe rauf liefen und aus voller Kehle das Lied der Kraft sangen. Ich führte den Chor an, dann antwortete Clair und dann Francoir und Großvater. Gemeinsam rannten wir durch die Alleen, die Torbögen, durch das Labyrinth und über die Brücke zum Palast.Ich wusste das Vater, Lucy und ihre Mutter zu dieser Zeit immer im Thronsaal waren, zu dem es vier Zutrittsmöglichkeiten gab, doch es gab ein Problem. Die Wachen! Schnell gab ich das Zeichen für Gefahr. Zum Glück waren die Wachen dumm genug sich allesamt im Labyrinth zu verirren. Also hatten wir freie Bahn.
Eine kurze Besprechung was ich weiterhin geplant hatte und schon ging es weiter zum Thronsaal.
Mein Cape ließ ich natürlich an und die Kapuze überm Kopf, als ich die schwere Tür mit all' meiner Kraft aufstieß und mit schweren, drohenden Schritten eintrat. Die Gesichter der drei sahen zurecht entsetzt aus. Und ich nutzte meine Chance. Voller Inbrunst sang ich das Lied der Kraft und sah einzeln hinauf zu den Emporen auf denen meine angeblich toten Familienmitglieder standen. Erst Großvater, dann Clair und zum Schluss Francoir. In genau dieser Reihenfolge stimmten sie mit ein. Lucy und ihre Mutter kreischten entsetzt auf und Vater wurde blass. "W-Wer seid Ihr?",stammelte er kleinlaut. Noch einmal sah ich zu Großvater und den anderen auf. Sie nickten. Also ließ ich meine Fassade fallen. Oder besser gesagt die Kapuze. Die drei Verräter vor mir wurden kreidebleich. "Warum habt Ihr Mutter und Großvater umgebracht?",donnerte meine Stimme durch den Saal. "Woher weißt du das?", erwiderte Vater. "Von Großvater höchst persönlich!Er ist hier!" -"Das kann nicht sein...Er ist tödlich verunglückt!" Im selben Moment sprang Großvater von seiner Empore und zog sich die Kapuze vom Kopf. "Wenn dem so wäre, lieber Simoñ , würde ich nicht hier sein können, um meiner Enkelin dabei zu helfen dich, herrschsüchtiger Verräter der du bist, zu stürzen!", rief er und stellte sich hinter mich. Jetzt sprang Vater auf! "Wie ist das möglich? Du bist tot und der Thron ist mein!", rief er erbost, doch Großvater ließ sich davon nicht beirren. "Eure Frau wusste, dass Ihr sie umbringen wolltet, doch da sie in der selben Nacht wegen ihrer Krankheit sowieso gestorben wäre, ließ sie sich nichts anmerken.", sprach er aufklärend und triumphierend,"Sie führte die "roten Engel", den Bund der Gerechtigkeit als würdige Anführerin und erzählte uns kurz vor ihrem Tod Euren Plan. Sogleich bat sie mich auch darum Eure Macht über den Thron und das Reich dem Erben zukommen zu lassen, der an ihrer Stelle zum gegebenen Zeitpunkt die Engel zum Ziel ihres letzten Willens führt."
Vater stürmte wutentbrannt auf Großvater zu und warf ihn zu Boden. Ein Dolch blitzte auf und sauste durch die Luft, kaum dass Vater die Hände um Großvaters Hals schließen konnte. Er traf mitten ins Schwarze. Vater fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Es war der Tod, der uns erlöste. Nun herrscht wieder Frieden und Wohlstand in unserem Reich. Ich bin Königin und habe drei treue Berater. Meinen Großvater, Tante Clair und Onkel Francoir. Lucy und ihre Mutter wurden unwiderruflich verbannt.
Ende
©Sabrina Goebel