Sie war allein. Keiner da um sie zu trösten, mit ihr zu lachen oder einfach nur bei ihr zu sein. Es war still um sie herum. Da saß sie nun und beobachtete den Regen, der am Fenster herablief und daran feine Linien zog. Das tat sie mittlerweile schon seit genau drei Jahren. Seither starrte sie jeden Tag Gedanken verloren in den Himmel, der sich seit damals kein einziges mal aufgehellt hatte. Manchmal weinte sie sogar. Doch heute sollte sich das ändern. Sie sprang auf, ihr Gesicht aus Wut verzerrt, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und schnappte sich ihren langen Mantel von der Garderobe. „Viel zu lange bin ich allein! Viel zu lange kauerte ich hier, zeigte mich nur in der Schule sonst nirgendwo! Nicht länger! Es reicht!!“, zischte sie wütend ihrem Spiegelbild zu, während sie sich die Haare zusammen band. Dann zog sie ihre Stiefel an, nahm den Schlüssel, ihr Geld, und ihr Handy und verließ die Wohnung. Mit hängendem Kopf betrat sie den kleinen Fahrstuhl und lehnte sich an dessen kalte Wand. Die Tür des Fahrstuhls war gerade drauf und dran sich zu schließen, als plötzlich ein junger Mann im letzten Moment seinen Fuß dazwischen hielt und hineintrat. Rose sah auf. Es war John Niklas Fergus, einer ihrer Mitschüler und zugleich ein alter Bekannter aus Kindertagen. „Rose?! Du gehst endlich mal wieder hinaus?“, fragte er überrascht. „Na und?! Wen schert ’s ! Irgendwann muss auch ich mal weg.“, erwiderte diese unbeeindruckt. Da hielt der Fahrstuhl an und die Tür öffnete sich. Beide traten heraus. „Was ist nur los mit dir, Rose?!?“, fragte John besorgt, „Du bist so anders in letzter Zeit!“ Rose antwortete ohne sich auch nur einmal umzudrehen. „Das verstehst du nicht, John! Was einmal war ist vergangen! Ciao!“ Mit diesen Worten ließ sie ihn in der Eingangshalle des Hochhauses stehen und ging hinaus auf die Straße. Zuerst ging sie ganz normal, doch je mehr Erinnerungen auf sie einflossen desto mehr verzweifelte sie. Schließlich begann sie zu rennen. Sie rannte und rannte ohne zu wissen wohin überhaupt. Weder blickte sie nach vorn noch hielt sie an Kreuzungen an. Das Gesicht tief in den Handflächen verborgen rannte sie blind und stur geradeaus, bis sie plötzlich ins stolpern kam. Zu ihrem Pech genau an der obersten Stufe der Treppe vom Marktplatz, die hinunter zum Strand führte. Erschrocken über den urplötzlichen Verlust ihres Gleichgewichtes riss sie ihre Hände vom Gesicht und starrte entsetzt in die Tiefe. Dann verschränkte sie reflexartig ihre Arme vor ihrem Kopf und wartete auf den nahenden Aufprall. Und der kam auch sofort. Rose krachte längs liegend auf die dritte Stufe der langen Steintreppe und polterte beziehungsweise rollte den Rest der Stufen der Länge nach hinab. Endlich erreichte sie den weichen Sand des Strandes. Eingesunken in ihren teilweise eingerissenen und zerschrammten Mantel und ihre blutig befleckte Hose kauerte sie sich in den Sand. Ihr verheultes Gesicht , in dem sich nun auch ein Schnitt auf ihrer rechten Wange abzeichnete, verbarg sie noch immer hinter ihren verschränkten Armen. Schluchzend versuchte Rose sich schließlich wieder aufzurichten. Als sie endlich wieder, wenn auch etwas wankend, auf den Beinen stand, kletterte sie langsam die lange Treppe hinauf, wobei sie ihre Schultern und ihre Kopf hängen ließ. Oben angekommen bemerkte sie, dass es mittlerweile tiefe Nacht geworden war. Der Marktplatz war gähnend leer und keine Menschenseele lief herum. Schwer atmend kämpfte sie sich zurück nach Hause und fuhr in den sechsten Stock hinauf zu ihrer Wohnung. Doch was war das. Als sie sich schlurfend ihrer Wohnungstür näherte, kam bereits ein besorgter alter Bekannter auf sie zu. John Niklas Fergus. Er hatte sich Sorgen gemacht, als er sie nicht zur gewohnten Zeit in ihrer Wohnung, die zudem direkt neben seiner war und zu der er einen Zweitschlüssel besaß, antreffen konnte. Jetzt sah er sie vor sich, abgekämpft, kraftlos, blutig und zerschrammt. „Rose, was ist passiert?“, fragte er erschrocken und besorgt zugleich. „Nichts, John, mir geht es gut...“, erwiderte diese schwach und bewegte sich auf ihre Wohnung zu. Weit kam sie jedoch nicht, da John sie plötzlich wütend gegen die Wand drückte und sich vor sie stellte. „Tut es nicht! Du lügst!“, schrie er ihr ins Gesicht. Wieder brach Rose in Tränen aus. Da schloss er sie in seine Arme. „Komm, du musst das Blut abwaschen, es ist spät!“, sprach er sanft, schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und führte sie hinein. John selbst verließ die Wohnung gleich wieder und schloss die Tür hinter sich. Erneut war Rose allein. Sie ging ins Bad und wusch sich das Blut vom Körper, dann legte sie sich schlafen.
Am nächsten Tag wurde sie vom lauten Klingelton ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. „Freitag“, dachte sie im Stillen während sie ihn ausschaltete und aus dem Bett stieg. Dann zog sie sich ihre Schuluniform und ihre Schuhe an. „Autsch!“. Rose war versehentlich an den schmalen Strich in ihrem Gesicht geraten. „So ein blöder Mist. Wäre ich gestern bloß nicht blindlings durch die Gegend gelaufen!“, sagte sie zu sich selbst und klebte sich ein Pflaster darüber. Da klopfte es auch schon an der Tür. Es war John. „Rose, komm sonst kommen wir zu spät zum Unterricht!“, rief er durch die Tür. Rose schnappte sich ihre Schultasche, ihr Handy und den Schlüssel und ging hinaus zu ihm. Wenig später saßen sie auch schon in der Klasse.
„Rose Sertien, komm nach vorne!“, sprach Herr Matisse . Das hatte ihr gerade noch gefehlt. In Mathe an die Tafel zu müssen war für sie ein Graus. „Rose Sertien!“, rief Herr Matisse wieder, als er merkte, dass diese ihn nicht wahrnahm. Da schaltete sich John ein. „Die Lösungsmenge ist die Menge mit den Elementen +6;-4!“, sagte er laut. Herr Matisse sah zu ihm hinüber. „Das ist richtig. Dennoch wollte ich das von Fräulein Sertien wissen und nicht von Ihnen John Fergus!“, erwiderte er ärgerlich. Bevor er allerdings noch etwas von sich geben konnte war die Stunde schon zu ende.
Die Klasse stürzte aus dem Raum hinaus auf den Gang. John folgte dem Strom der Schüler in die Cafeteria. Rose hingegen seilte sich zwischendurch ab und zog sich aufs Dach des Schulgebäudes zurück. Es war das erste Mal, dass sie in der Schule einen Alleingang wagte. In Gedanken versunken lehnte sie sich an das Außengeländer des Daches und beobachtete das rege Treiben unten auf dem Hof. Plötzlich hörte sie hinter sich jemanden rufen. Dann wurde sie gewaltsam umgedreht. Vor ihr stand eine Gruppe von Mädchen aus ihrer Klasse. Darunter Vanessa Strietolm, eine Amazonenhafte Primadonna ihrer Art. Eitel, süchtig nach der neuesten Mode, großschnäuzig und total verwöhnt. Um nicht zu sagen eine richtige Göre und gewaltsam obendrein. „Na, was machst du denn hier so alleine, hm?, heuchelte sie. „Nichts was dich etwas angehen würde, Vanessa!“, entgegnete Rose kurzerhand. Damit fing sie sich zwei Ohrfeigen von Vanessa ein. Rose wich ans Geländer zurück, doch das nütze ihr nichts. Für jeden Schritt den sie tat bekam sie einen Tritt von jedem Mitglied der Gruppe. Ihr wurde speiübel, doch sie konnte nicht flüchten. Näher und näher kamen die Mädchen auf sie zu. Sie schlugen und traten auf sie ein ohne Unterlass, bis Vanessa Rose an den Schultern packte und sie mit dem Oberkörper so weit über das hüfthohe Geländer hielt, bis sie kurz davor war zu stürzen. Für einen Moment ließ sie wieder von ihr ab, als sie die Angst in ihren Augen sah, doch dann kamen auch die anderen Mädchen dazu. Gemeinsam stießen sie Rose über das Geländer in die Tiefe. Dann verschwanden sie mit einem hämischen Grinsen aus ihren Augen. Rose begann zu schreien so laut sie konnte. Der Wind dröhnte in ihren Ohren so stark, dass sie schmerzten. Im Fall versuchte sie sich zum Schutz zusammen zu kauern, was ihr durch die Schmerzen ihres Magens nicht gelang.
„Das alles geschah vor drei Jahren. Was mit den Täterinnen geschah ist nicht bekannt. Nur, dass sie noch immer auf diese Schule gehen!“, beendete Chris ihre Erzählung über die Legenden der Lizard Highschool. „Ziemlich mysteriös findet ihr nicht?“, fragte sie ihre Zuhörer, die allesamt zu ihrem Jahrgang gehörten.
Ende
©Sabrina Goebel