In einem weit entfernten Land, lebte einmal ein junges Mädchen.
Sie arbeitete als Amme für reichere Familien.
Mit ihren gerade mal 18 Jahren war das ein hartes Stück Arbeit.
Jeden Tag dafür zu sorgen, dass ihre Schützlinge, die häufig Kinder im Alter von 4 – 10 Jahren waren, etwas zum Essen bekamen, ein Bad nahmen oder ins Bett gingen war nicht leicht. Natürlich musste sie die Kinder auch bei Laune halten. Das tat sie am Liebsten, indem sie mit allen Kindern lange Spaziergänge macht, auf denen sie sich immer wieder neue Spiele für sie einfallen ließ. Heute war es das Spiel >Finde mich<, bei dem sie den Kindern Bilder von Dingen zeigte, die diese suchen sollten.
Gerade kamen die Kleinen als Gruppe zu ihr zurück und brachten ihr den zuletzt gezeigten Gegenstand, doch beim Durchzählen fehlte ein Mädchen. „Sofia!“, rief Mara, „Sofia, wo steckst du?“ „Hier!“, kreischte die Siebenjährige.
Es dauerte gar nicht lange, schon hatte die Amme sie gefunden. Das Mädchen saß verängstigt vor einem Tannenbaum und zeigte im Licht der vereinzelten durch den Wald dringenden Sonnenstrahlen auf etwas, das aussah wie ein großer ovaler Stein. „D – D – Der Stein hat sich bewegt.“, sagte Sofia zu Mara. „Steine können sich nicht einfach so bewegen, Sofia, vielleicht hast du ihn aus versehen angeschubst und er hat sich deshalb bewegt.“, beschwichtigte Mara sie. „Nein, habe ich nicht. Der Stein hat sich von alleine bewegt. Ich habe ihn nur angesehen und dann hat er gewackelt.“, beharrte Sofia auf ihr Wort. „Na komm, Kleine, wir nehmen den Stein mit und dann gehen wir mit den Anderen zurück nach Hause.“, meinte Mara und hockte sich hin. Vorsichtig hob sie den Stein hoch, legte ihn sich in die Schürze und stand mit vorne hochgehaltener Schürze wieder auf. „Ui, ist das schwer.“, schnaufte sie und machte sich mit der kleinen Sofia und den anderen Kindern auf den Weg zurück zu ihrem kleinen Häuschen am Rande des Wäldchens.
Dort legte sie den Stein ins Stroh einer Box im kümmerlichen Verschlag, der neben ihrem kleinen Kräutergarten stand. Mittlerweile war es Abend geworden und die Kinder quengelten, weil es Zeit wurde, dass sie ihr Abendessen bekamen und ins Bett gingen. Überall zupfte es an Maras Schürze, bis endlich alle 10 Kinder schmatzend und schlürfend am Küchentisch saßen und Gemüsesuppe aus ihren Holzschälchen löffelten.
Vier Tage später, Mara war gerade mit ein paar Schützlingen im Kräutergarten, da krachte es mit einem Mal, gerade so als fiele etwas von etwas Anderem herunter oder würde irgendwo gegen geschlagen. Mara schrak hoch und versuchte herauszufinden woher das Geräusch gekommen war. Das Haus? – Nein. Der Holzstapel an dessen linker Seite? – Auch nicht. Was war da noch … Ach ja, der Bretterverschlag. Aber da konnte sich doch nichts einfach so drin bewegen, dachte sie, es sei denn …! Mara rannte zu dem kleinen Bretterverschlag und riss die Tür auf. Das wenige Licht, das durch die Löcher der Bretterwände drang, reichte ihr, um das Nötigste im Inneren zu erkennen. Sie ging einen Schritt weiter hinein. Der Platz auf den sie vor wenigen Tagen den Stein aus dem Wald gelegt hatte war leer. Zumindest bis auf einen von weitem nicht zu identifizierenden Klecks auf dem Boden. Nein, es war kein Klecks, ein Klecks bewegte sich nicht. Aber was war es dann. Mara hockte sich neben den beweglichen Klecks, streckte vorsichtig ihre Hand nach ihm aus und tippte ihn kurz an. Sie zuckte zurück. Schuppen. Winzige harte Schuppen überzogen den kleinen zusammengekauerten Körper der da vor der jungen Amme im Stroh lag.
Das seltsame kleine Wesen räkelte sich und gab eigenartige Töne von sich. Dann öffneten sich seine Augen und es sah Mara an. Feuerrote kleine Äuglein blickten sie fragend an. Einerseits ängstlich aber andererseits auch fasziniert von dem kleinen Wesen, das da so schutzlos vor ihr lag, schaute sie es sich genauer an. Die Schuppen waren nicht das Einzige was Mara auffiel. Aus dem Rücken des Kleinen ragten winzige Flügelchen, die es wie Fächer zusammengefaltet hatte. Damit sie noch mehr sehen konnte, holte die junge Amme eine Öllampe aus dem Haus und brachte etwas Gemüse und aufgewärmten Reisbrei vom Mittagessen mit in den Bretterverschlag. Das kleine Wesen erfreute sich bei ihrer Ankunft bereits an Streicheleinheiten und Spielereien der kleinen Kinder, die in den Bretterverschlag gelaufen waren, nachdem Mara ihn verlassen hatte. Als es sah das Mara wieder da war, setzte es sich hin und sah ihr aufmerksam zu wie sie die leuchtende Öllampe vor sich abstellte und sich mit der Schüssel Reisbrei vor ihm zwischen die Kinder setzte. Kaum saß sie auf dem Boden, tapste das kleine Wesen auf sie zu. Anscheinend war ihm der Geruch vom warmen Reisbrei in die Nase gestiegen. Die Kinder lachten, als es die Nüstern blähte, während es behutsam Fuß vor Fuß setzend der Schüssel näher kam. Bei der Schüssel angekommen tastete es sich mit seiner Nase ganz vorsichtig bis zum oberen Schüsselrand vor.
Doch aller Vorsicht zum Trotz, landete es dennoch mit der Nase voran mitten im Brei.
Es nieste und versuchte sich die weiße Pampe aus dem Gesicht zu wischen. Als das aber nicht klappte, schoss eine lange rote Zunge aus seinem Maul und leckte den Brei ab. Erst guckte das kleine Wesen komisch, weil der Geschmack neu war, doch wenig später schmatzte es fröhlich, legte den Kopf schief und sah Mara mit großen Augen an, so als wollte es fragen, ob das schon alles war oder ob es noch etwas bekommt. Mara grinste und hielt ihm die Schüssel hin. Wieder bewegte sich das kleine Wesen darauf zu, doch diesmal stellte es sich geschickter an. Bevor es mit seinem winzigen Maul den Rand erreichte, schob es seine rote Zunge vor und tastete nach dem Brei im Inneren der Schüssel. Es dauerte nicht lange schon war die Schüssel leer. Mara stellte die leere Holzschüssel neben sich auf den Boden und sah das kleine geflügelte Wesen an. Was bist du bloß, dachte sie sich, vielleicht finde ich es heraus, wenn du weiterhin hier bei mir bleibst.
Wiederum eine Woche später saß die junge Amme mit ihren Schützlingen wieder im Schein der Öllampe bei dem kleinen Wesen im Bretterverschlag und fütterte es. Allein in der vergangenen Woche hatte es gut zugelegt und war enorm gewachsen, sodass das kleine Wesen Mara mittlerweile, wenn es stand, bis zum Knie reichte. Gerade schnappte es sich eine Möhre und kaute sie genüsslich, um allen zu zeigen wie gut ihm das Essen von der Amme schmeckte. Die Kinder lachten, als ihm dabei immer wieder das Grünzeug am Ende der Möhre vorm Gesicht herumwirbelte, denn genau wenn das passierte, versuchte es mit seinen Augen dem Grünzeug zu folgen. In Gedanken versunken beobachtete Mara das lustige Schauspiel, bis sie plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf vernahm. „Warum schaut Ihr so komisch?“, fragte die piepsige Stimme sie, „Ihr gebt mir zu essen, spielt mit mir, aber Ihr wagt es nicht mit mir zu reden. Ihr habt doch wohl keine Angst vor mir!?“ „Wer spricht da?“, fragte Mara zögernd in den Raum hinein, so als spräche sie mit der Luft. „Seht mich an. Ich sitze vor Euch.“, antwortete die Stimme in ihrem Kopf. Die junge Amme zuckte zusammen und starrte das kleine Wesen vor sich sprachlos an. „Wer oder was bist du?“, fragte sie das Wesen entsetzt, „Und wie kommt deine Stimme in meinen Kopf?!“ „Ich bin ein Drache. Leider kann ich Euch nicht sagen wie ich heiße, weil Ihr mir noch keinen Namen gegeben habt, aber ich hoffe ich bekomme noch einen.“ – „Sicher, ganz bestimmt fällt mir ein Name für dich ein, nur begreife ich nicht, warum ausgerechnet ich dich gefunden habe und warum deine Stimme nur in meinem Kopf ist und die Kinder dich nicht hören.“ – „Nun, Herrin, ich rede mit Euch über Gedanken, um die Kinder nicht zu verängstigen und bevor ich Euch erkläre warum es Euch bestimmt war mich zu finden, solltet Ihr lieber mit den Kindern hinaus vor das Haus gehen, denn dort warten Leute auf Euch. Ich warte hier.“ Mara sprang auf. „Die Eltern!“, dachte sie, „Die Eltern wollten heute ja die Kinder abholen.“
Artig trabten die Kinder vor der Amme in Zweierreihen aus dem Bretterverschlag und um das Haus herum. Erst als sie ihre Eltern sahen, sprinteten sie los und sprangen ihnen in die Arme.
Als alle ihre Kinder in den Armen hielten, verabschiedeten sie sich höflich von Mara und sagten ihr, das sie ihre Dienste erst wieder in 6 Monaten benötigen würden, da alle Familien in der Stadt aufgefordert worden waren mit ihren Kindern in die nächst größere Stadt zu reisen, wo ein großes Fest gegeben würde. Kaum waren die Familien gegangen, ging die Amme zurück zu dem kleinen Drachen im Bretterverschlag. „Ah, da seid Ihr ja wieder, meine Herrin, nun kann ich endlich aufhören über Gedanken mit Euch zu reden und Euch in Ruhe alles erklären.“, sprach der kleine Drache. Mara setzte sich wieder vor ihm hin und hörte gespannt zu. „Also …“, begann der kleine Flattermann seine Erklärung, „Ihr habt Euch sicher schon oft gefragt, warum Ihr hier draußen ganz allein lebt und nicht wie die anderen Leute in der Stadt und wieso sich die Familien darum reißen ihre Kinder bei Euch abzugeben, obwohl doch noch viele andere Ammen direkt in der Stadt leben.“ Mara nickte. „Das ist so, weil Ihr die letzte Erbin einer besonderen Gabe Eurer Familie seid. Jeder Eurer Ahnen hatte ein ganz besonderes Wesen als Begleiter und gab die Gabe an sein Kind weiter. Sicher habt Ihr schon einmal die Legenden gehört, die hier in der Gegend erzählt werden. Sie erzählen von den >Teufelsmalern<.“
„Die Teufelsmaler?“, fragte Mara erstaunt, „Sind das nicht diese Leute, die damals die Städte und Königsdörfer in Angst und Schrecken versetzt haben, weil alles, was sie malten, wie von Zauberhand lebendig wurde? Die Menschen, die auch sich selbst und ihre Umgebung nach ihren Wünschen und zum Wohl der anderen Menschen mit einer einzigen Handlung oder einem winzigen Pinselstrich so verändern konnten, wie sie es wollten?“ Der kleine Drache nickte. „Ja“, antwortete er ruhig, „Aber eure Legenden sagen nicht in allen Teilen die ganze Wahrheit.“ - „Nicht?“ Die junge Amme sah den kleinen Drachen verwirrt an. „Nein.“, erwiderte dieser und sah ihr tief in die Augen, „Zum Beispiel erzählen Eure Legenden nur davon, dass die Teufelsmaler Menschen waren. Sicher hat man Euch auch erzählt, dass sie nur Schlechtes getan haben und nur dann etwas für andere Menschen in ihrer Umgebung taten, wenn etwas für sie selbst dabei heraussprang, wie zum Beispiel Macht. Auch wir, die treuen Begleiter, werden nicht erwähnt. Und wenn, dann nur als eine Art Monster, die den Teufelsmalern helfen das Unheil über die Menschen um sie herum zu bringen.“ „Ja, das hat man mir erzählt.“, antwortete Mara. „Aber all das stimmt nicht!“, brüllte der kleine Drache und sprang schnaubend auf sie zu, sodass die junge Amme vor ihm vor Schreck rücklings umkippte. „Aber, was ist die Wahrheit?“, fragte diese ihn kleinlaut, nachdem sie sich wieder so weit aufgerappelt hatte, dass sie den kleinen Drachen auf Augenhöhe anschauen konnte. „Sehe ich für Euch vielleicht wie ein Monster aus? Auch ich trage in mir ein schlagendes Herz, wie jeder Mensch, nur bin ich ein Wesen.“, fauchte er und trat ein Stück zurück, „Was glaubt Ihr warum Ihr Euch so gut mit den Kräutern und Farnen der Natur um Euch auskennt. Daraus stellten die Teufelsmaler Ihre Farben her. Jene Farben, die es ihnen ermöglichten den Menschen zu helfen. Und die Leute bringen ihre Kinder bevorzugt zu Euch, weil Ihr eine beruhigende Wirkung auf diese Kinder habt und weil Ihr Wärme und Ruhe ausstrahlt, mehr noch, als jede andere Amme in der Stadt. Ihr seid nicht wie alle anderen. Ihr seid kein Mensch, Herrin, doch das wird Euch in der nächsten Zeit selbst auch bewusst werden.“
Und der kleine Drache sollte recht behalten. Eines Morgens, als sie ihm grad sein Essen brachte, fiel dem kleinen Drachen auf, dass Mara sich nicht mehr so ausgeglichen bewegte wie sonst. Sie klagte über zwei Stellen auf ihrem Rücken, die öfters schmerzten und sah sehr müde aus. „Was ist los, Herrin, geht es Euch nicht gut?“, fragte er sie mit seiner mittlerweile dunklen aber sanften Stimme besorgt. „Ach, mein treuer Drache, die Ereignisse in der Stadt und die Schmerzen auf meinem Rücken lassen mich nicht mehr schlafen. Und du bist mittlerweile zu groß für den kleinen Bretterverschlag, sodass du draußen schlafen musst.“, antwortete sie und sah zu ihm auf. „Ja, Ihr habt recht, ich bin zu groß für mein warmes Bett in dem kleinen Bretterverschlag, weil ich so groß bin, dass Ihr noch eineinhalb Köpfe größer sein müsstet, um mit meinen Schultern auf einer Höhe zu sein, doch das ist nicht schlimm. Hier draußen kann ich fliegen, wenn es Nacht wird und habe genug Platz zum Schlafen. Aber Ihr solltet Euch nicht um mich sorgen, sondern um Euch. Zeigt mir bitte mal wo es Euch auf dem Rücken wehtut.“, sprach der Drache. Die junge Amme drehte sich mit dem Rücken zu ihm und nahm ihre langen Haare zu Seite, damit er genau sehen konnte, welche Stellen sie ihm zeigte. „Es ist nicht schlimm.“, sagte er nach einer Weile zu ihr, „Geht und seht Euch in einem Spiegel an. Für Euch und für wenige auserwählte andere Leute werden sie sichtbar sein. Ihr habt schwarze Flügel“ „Das erklärt zumindest die schwarzen Federn auf meinem Bett. Ich werde es mir später ansehen, doch vorher würde ich dir gern einen Namen geben.“, sagte Mara und drehte sich zu dem Drachen um. „Ihr habt einen Namen für mich?“, fragte der Drache aufgeregt. –„Ja, habe ich, was hältst du von Aiden oder Nathair? “ –„Aiden gefällt mir, Herrin.“ –„Gut, dann heißt du ab sofort Aiden.“ Der Drache schnaubte erfreut. "Endlich! Ich habe einen Namen!", rief er. Doch seine Freude war leider nur von kurzer Dauer. Nur wenige Sekunden später riss er seinen Kopf hoch und lauschte. "Was ist los, Aiden?", rief Mara erschrocken. "Es ist soweit!", antwortete dieser, "Eure Reise als Teufelsmalerin beginnt !" Bevor die junge Amme weitere Fragen stellen konnte, packte der Drache sie und setzte sie sich auf den Rücken. Dann breitete er seine Flügel aus und erhob sich mit seiner Herrin in die Lüfte.
©Sabrina Goebel