Princess Justice

the angel of music
 

Sie rannte und rannte. Eine Straße hinauf die nächste hinab. Ihr Schatten zog sich über den Boden, während sie immer wieder durch die Lichtkegel der Laternen lief. Vor ihrem Häuserblock blieb sie schließlich stehen und schnaufte. Dann drehte sie sich um. Niemand zu sehen. Aber sie hatte doch laut und deutlich die Schritte eines Mannes hinter sich vernommen. Misstrauisch blickte sie sich um. Also doch. Dort hinten lief eine Gestalt mit wehendem schwarzen Mantel genau auf sie zu. Zu ihrem Pech gingen jetzt auch noch die Laternen aus. Nun musste sie sich ganz auf ihr Gehör verlassen. Wie ein Trommelschlag donnerten die Schritte der sich nähernden Gestalt in ihren Ohren. Schon hatte sie wieder ihre Beine in die Hand genommen und floh. Die Schritte kamen näher, wurden lauter. Diesmal kam sie leider nicht weit. Nach zwei Schritten hielt eine Hand sie an ihrer Schulter zurück und drehte sie zu sich um.

 

*

 

Rumms! Justice war aus ihrem Bett gefallen. Schlagartig riss sie die Augen auf und erhob sich.

„Sowas bescheuertes.“, sagte sie zu sich selbst, „Dieser dammische Traum!“ Dann erstarrte sie plötzlich in ihrer Bewegung.

Wer hatte das Fenster geöffnet!? Justice selbst hatte es doch geschlossen bevor sie sich hinlegte. Sowas.

Vorsichtig ging sie zur Zimmerwand und tastete nach dem Lichtschalter. Kurz darauf durchflutete grelles Licht den Raum. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen daran gewöhnten. Als es soweit war, sah sie sich im Zimmer um. Nichts Lebendiges außer ihr war zu sehen. Langsam ging sie hinüber zum Fenster und schloss es wieder. Von draußen schien der Vollmond in ihr Zimmer. Sehr merkwürdig, dachte sie sich. Damit hatte sie auch recht. Es war merkwürdig. Da fiel sie erst wegen einem Traum aus ihrem Bett, dann stand das Fenster offen, obwohl sie es geschlossen hatte. Es war ja nicht einmal beschädigt. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Nein, dafür war sie viel zu aufgeregt und überrascht. Vorsichtig durchstreifte Justice die einzelnen Zimmer ihres Hauses, um sicher zu gehen, dass keiner durchs Fenster eingestiegen war. Als sie sich endgültig sicher war, dass es nicht so war, ging sie hinunter ins Wohnzimmer zur großen Vase und schob sie zur Seite. Dahinter befand sich eine schmale Tür aus den selben Steinen wie die Wand. Justice drückte sie auf und schlüpfte hinein. Die Tür schloss sich gleich nachdem sie drinnen war und bildete wieder eins mit der Wand. Kurz darauf hastete sie eine scheinbar endlose Wendeltreppe hinab, bis sie schließlich vor einem hohen Tor stand, dessen linker Torflügel sperangel weit offen stand. Misstrauisch und auch ein wenig ängstlich betrat sie den dahinter liegenden Raum und klatschte dreimal laut in die Hände. Sofort erhellte sich der Raum durch einen Lüster an der Zimmerdecke. Eilig huschte Justice zum anderen Ende des großen Raumes, wo ihr Flügel stand.

All ihre Noten lagen kreuz und quer auf und unter dem Flügel verteilt, ebenso ihre Zeitungsausschnitte und Artikel, die sie früher gesammelt hatte. Diese berichteten allesamt über eine einzigartige Meisterdiebin, welche vor wenigen Jahren in Wolf Town ihr Unwesen trieb. Beim Aufsammeln von den Dokumenten musste sie schmunzeln. „Wieder ein wertvoller Gegenstand verschwunden“, sprach sie leise vor sich hin, während sie grinsend die Artikel und Noten getrennt auf dem Flügel stapelte. Doch das fröhliche Grinsen blieb nicht lange, da ihr plötzlich ein Artikel auffiel, den sie die ganzen Jahre lang nicht ein Mal gelesen hatte. „Seltsamer Zufall“, sagte sie, „dieser Artikel ist mir nie unter die Augen gekommen. Mal sehen was darin steht...“. Mit diesen Worten schob sie sich den kleinen Artikelschnipsel in die Brusttasche ihres Schlafanzuges und prüfte noch einmal ob alles an seinem Platz war. Dabei entdeckte sie ein zusammen gerolltes Stück Pergament, das auf dem Tastenschutz des Flügels lag. Verwundert nahm sie es an sich und sah sich im gesamten Raum verstohlen um. Zu ihrer Erleichterung war niemand zu finden. Aber wie kam dann das Pergament hier hinab in ihr allerheiligstes Gemäuer? Sollte das etwa bedeuten, dass noch eine andere Person den Weg hier hinunter in ihre geheimen Bibliotheken und Säle kannte? Und somit auch ihre Geheimnisse vor den anderen Menschen? Nein. Das konnte und durfte nicht sein. Doch wie sollte das Pergament sonst hierher geraten sein, wenn nicht so. Darüber wollte Justice gar nicht erst nachdenken. „Dann muss ich den Weg hier hinunter wohl doch noch besser sichern und verbergen, wie ich es anfangs vorgesehen hatte!“, sprach sie nachdenklich und betrübt, „Niemand darf erfahren wer sich hinter mir verbirgt!“ Flink wie ein Wiesel lief sie, das Pergament fest umklammert, zu einem kunstvoll verzierten Schreibpult zur Linken des Flügels, lies sich auf dem Hocker davor nieder, legte das Pergament auf ihren Schoß, ergriff Papier und Stift und begann zu zeichnen. Abmessungen links, Aufbau in der Mitte und Material rechts. In diesem Stil entwarf sie mehrere Pläne für weitere Säle und Gänge und entsprechende Abwehranlagen. Zumeist waren letzteres irgendwelche riskanten Fallen, aber das scherte sie nicht. Je sicherer es war desto besser gefiel es ihr. Schließlich fügte sie den gesamten Aufbau von Gängen, Sälen und Abwehranlagen zu einem großen Plan zusammen und rollte diesen ein. Die Planskizze unterm Arm, das Pergament in der Hand und den Artikel in der Brusttasche verstaut, machte sie sich auf den Weg zurück ans Tageslicht. An der Tür klemmte sie das Pergament kurzzeitig unter ihren anderen Arm, um klatschen zu können und somit das Licht zu löschen, den Rest des Weges verbrachte es wieder in ihrer Hand. Oben schob sie die schmale Tür zum Wohnzimmer auf, trat hindurch und schob von außen wieder die Vase davor. Wenig später befand sie sich schon wieder in ihrem Zimmer im Dachgeschoss. Der Regen prasselte gegen das Zimmerfenster. Es hatte zu regnen begonnen kurz nachdem sie im Kellergeschoss verschwunden war. Justice schaltete das Licht an und begab sich zu ihrem Schreibtisch. Dort legte sie den Plan, das Pergament und den Zeitungsartikel sorgfältig nebeneinander ab und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. Beiläufig sah sie auf ihre Uhr an der Wand. Erst halb vier, dachte sie sich, viel zu früh um alles Nötige zu beschaffen. Damit meinte sie natürlich halb vier am Morgen und nicht etwa halb vier nachmittags. Gerade mal ein eineinhalb Stunden war es her, dass sie aus dem Bett gefallen war. Jetzt nahm sie den Artikel und begann zu lesen. „Meisterdiebin „Shadow“ verbündet mit „Lord V. Piroir“, ebenfalls Meisterdieb!?“ „Die Wolftowner Polizei vermutet einen Zusammenhang zwischen den Raubzügen von „Shadow“ und “Lord Piroir“. Die Identitäten beider Meisterdiebe sind bisher weitgehend unbekannt. Opfer der Raubzüge sagen aus, dass sie jene Diebe am Tag danach zusammen gesehen haben. Die Polizei ermittelt unerbittlich weiter in jedem Stadtbezirk.“ „Solch eine Unverschämtheit!“, fauchte Justice, „Wer ist dieser Piroir überhaupt?!?“ Entrüstet legte sie den Artikel beiseite und nahm sich das Pergament zur Hand. Darauf war in krakeliger Schrift zu lesen: „ Werdet wieder Eurem Ruf gerecht, Milady. Es wäre schade drum, wäre ich konkurrenzlos beim Stehlen. Doch erschrecket nicht vor meinem Antlitz, solltet Ihr mich sehen. Heute Nacht im Schlossmuseum.

Hochachtungsvoll  

„Lord V. Piroir“

„Ich komme wohl nicht umhin noch einmal mein Gesicht mit Maske und Kostüm zu verschleiern und ihm gegenüber zu treten.“, stellte sie fest, nachdem sie das Pergament wieder aufgerollt hatte, „Dann war er es der hier eindrang. Er muss mich damals beobachtet haben. Doch ich werde nur herausfinden was er weiß und was er von mir will, wenn ich sofort aufbreche.“ Mit diesen Worten sprang sie auf, warf das Pergament auf den Boden und stürmte los. Diese Treppe hinunter ins Erdgeschoss, durch den Flur und hinein in den Wandschrank. Nach wenigen Minuten auch dort wieder hinaus, den Flur entlang und hinaus in die dunkle Nacht. Allein gehüllt in ein schwarzes Kostüm, eine schwarze Maske und ein Stück schwarzes Tuch aus Seide. Geschwind wie ein Panther lief sie durch die Straßen. Es dauerte gar nicht lange, schon stand sie auf dem runden Glasdach des Schlossmuseums im Mittelpunkt der Stadt und sah hinab in eine prunkvoll verzierte Halle. Direkt unter ihr lag eine Treppe vom ersten Stock direkt zum Boden. Das passte sehr gut. Mit ganzer Kraft sprang sie hoch und zerbrach einen Teil des Glasdaches durch ihre Landung so weit, dass sie locker hindurch fiel. Es klirrte und schon landete sie auf der obersten Stufe der Treppe. Ein wenig schmerzhaft, aber wenigstens war sie jetzt im Gebäude. Sie sah sich um. Kein „Lord“ und auch sonst war niemand zu sehen. Also erhob sie sich und schritt gemächlich die Treppe hinunter. Dazu hatte sie alle Zeit der Welt, denn das Museum hatte keinerlei Alarmsysteme installiert. Noch nicht einmal eine Strahlenbarriere gab es. Wo ist er denn nun, dachte sie sich, während sie den unteren Raum erkundete. Da hörte sie Schritte auf dem Parkett. Ein Nachtwächter? Schnell verbarg sie sich so hinter einem Pfeiler, dass sie selbst noch gut sehen aber selbst nicht gesehen werden konnte. Die Schritte kamen näher. Eine Gestalt in langem wehenden Mantel kehrte im Raum ein und sah sich um. Die Stille, die nun im Raum weilte, war unerträglich. Mit einem Mal erhob die dunkle Gestalt, die den Körperbau eines jungen Mannes besaß, die Stimme und sprach: „Ich gedachte nicht Euch zu erschrecken , Milady, kommt hervor.“ Ein Glück. Es war kein Nachtwächter. Dennoch war Justice skeptisch. Was er wohl von ihre wollte. Zögernd trat sie hinter ihrer Säule hervor und zeigte sich dem Fremden. „Was wollt Ihr von mir?“, sprach sie. Der Jüngling sah zu ihr herüber. „Welch unhöfliche Anrede. Ganz und gar nicht die Art einer von Piroir.“ Nun ging er auf sie zu.

Instinktiv zog Justice sich bei jedem seiner Schritte einen Schritt zurück. „Was meint Ihr damit?“, fragte sie nervös. „Was ich damit meine?!“, antwortete er, „Hat Euch denn niemand von mir erzählt? Ich bin Euer Bruder Prinz Vate Marcel Piroir!“ Völlig verwirrt starrte sie ihn an. „Ich weiß nichts von einem Bruder, welcher noch dazu ein Prinz ist.“ – „Unsere Eltern haben Euch und mich in getrennte Familien gegeben, als es unserem Land schlecht ging. Ich habe Jahre lang nach Euch gesucht.“ Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Und wieder herrschte Stille im Raum. Doch nur bis sie sich an etwas erinnerte, was sie nie hatte herausfinden können. „In dieser Stadt bin ich nur bekannt unter dem Namen Justice. Ich habe weder Titel noch Nachnamen. Doch ich fand alte Dokumente in denen über eine Justice V. M. v. P. berichtet wurde, und die in meinem Alter sein müsste. Die Ähnlichkeit des Vornamens verwunderte mich. Und auch ein Foto in den Schriften sah mir im Alter von fünf Jahren zum verwechseln ähnlich. Allerdings kam es all die Jahre in denen ich hier als Diebin umging in Vergessenheit.“ Der Jüngling lachte kurz auf, wurde dann aber wieder ernst. –„ Es ist kaum verwunderlich, dass Euch dieses Foto so ähnlich sah und der Name dem Euren gleichte, denn Ihr wart in unserem Land schon einmal vor einen Zeichner getreten und liesset Euch porträtieren. Unter dem Portrait ward Euer Name vollständig eingraviert. Justice – Vanessa – Marciell von Piroir. Prinzessin von Ceric Fergus.“ Justice erschreckte. „Ich, eine Prinzessin? Das glaub ich nicht.“ – „Glaubt es ruhig, Schwesterherz. Es ist wahr sowie ich hier vor Euch stehe. Ich bin gekommen um Euch zurück in unsere Heimat zu bringen.“, erwiderte der junge Mann freundlich und ging erneut ein Stück weiter auf sie zu. Allmählich begriff sie, dass er recht hatte. Sie schloss die Augen und hörte ihm gespannt zu, während er stehen blieb und ihr ausführlich von ihrer wirklichen Heimat erzählte. Dabei sah sie alles genau vor sich: Ihre Eltern, das Land und einen reich verzierten Palast mit zwei hohen Türmen. Alles schien ihr so real, so klar. Doch dann dachte sie an diesen Unbekannten aus ihrem Traum und erkannte, dass sie so schnell wie möglich dorthin zurück musste, wo ihr Ursprung war. Als sie die Augen wieder öffnete sah sie vor sich die ausgestreckte Hand des Jünglings, ihres Bruders. In seinem Gesicht zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. Justice lächelte nun ebenfalls, nickte und ergriff seine Hand. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an ihr Leben hier in Wolf Town. Dieses 16 jährige Mädchen wollte nur noch eines: Nach Hause zu ihren leiblichen Eltern. Zusammen durchquerten sie den Raum zu einem Glasfenster. Ihr Bruder trat es ein und beide sprangen hinaus. Draußen begannen sie zu laufen als wäre eine bissige Töle hinter ihnen her. Sie rannten und rannten, bis sie vor der Haustür von Justices Haus standen. Dort verschnauften sie ein wenig und begaben sich hinein. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, machte sich eine angenehme Stimmung unter den Geschwistern breit. Justice zog ihren Bruder mit sich ins Wohnzimmer, durch die schmale Tür vom Geheimgang, die Treppe hinunter und in ihre Gemäuer zu einer von Spinnenweben bedeckten Holztüre. „Diesen Ort habe ich nicht selbst angelegt und hatte daher Angst ihn zu betreten.“, sagte sie zu ihm, woraufhin er wortlos  die besagte Tür öffnete, als wäre er schon einmal im Zimmer dahinter gewesen. Vom Öffnen der schweren Tür schaltete sich automatisch das Licht ein. Sie folgte ihm schweigend hinein und fand sich sogleich vor einem riesigen Wandgemälde wieder, auf dem eine Landkarte von Ceric Fergus abgedruckt war. Ihr Bruder betätigte sich unterdessen am Lesen von vergilbten Unterlagen. „Justice!“, rief er plötzlich, „komm doch mal her, Schwesterherz.“ Sie trat neben ihn und sah hinab auf das vergilbte Dokument in seinen Händen. Es war in einer ihr unbekannten Schriftart verfasst, die ihr Bruder anscheinend entziffern konnte. Nur der Aufbau der Worte verriet ihr, dass es sich um einen Brief handelte. „Liebe Justice,“, las Vate ihr vor, „ wenn du diese Kammer öffnest wird es Zeit für dich deinen rechtmäßigen Platz einzunehmen. Mit Sicherheit werde ich zu dieser Zeit leider nicht mehr unter den Labenden weilen, genauso wie dein Vater. Daher bitte ich dich an unserer Stelle das Regiment zu übernehmen. Dein Bruder wird dir dabei helfen.

In Liebe,

deine Mutter

Königin Carolyn – Vallery – Mary v. Piroir

Damit endete der Brief und Vate schlug den Ordner zu, in dem das Schriftstück sich befand. Justice stand da wie vom Donner gerührt und bewegte sich nicht. Erst als er sie aus dem Raum heraus gezogen und die lange Treppe hinauf ins Wohnzimmer gezerrt hatte, kam sie wieder zur Besinnung. „Mutter ist tot und Vater auch“, stammelte sie aufgebracht. „Ja, so ist es Schwesterherz. Verstehst du nun, warum ich nicht länger warten konnte?“, erwiderte ihr Bruder beschwichtigend. Sie nickte bloß und schob die Vase wieder vor den Eingang der Gemäuer. Danach ging sie noch ein letztes Mal durchs ganze Haus, um sicher zu gehen, dass es keine Hinweise darauf gab, wohin sie ging. Die Sicherheitspläne schloss sie in ihrem Zimmerschrank ein und befestigte den Schlüssel an ihrer Halskette. Dann suchte sie ihr gesamtes Geld zusammen, verließ mit ihrem Bruder das Haus und schloss die Eingangstür sorgfältig ab. Der Schlüssel landete ebenfalls an ihrer Halskette. Damit begann ihre Reise in die Heimat und ins Ungewisse. Zuerst zum Hafen, von dort  mit einem Segelschiff übers Meer, durch Stürme, Nebel und sonstige andere Naturgewalten, die es auf See gab und schließlich auf Ceric Fergus angekommen zu Pferd querfeldein zum Palast. Vor den Toren des Palastes mussten sie noch einmal anhalten, da der Pförtner kontrollierte, ob sie wirklich zur königlichen Familie gehörten. Schließlich stand fest, dass es so war und ihnen wurden die Tore geöffnet. Sie stiegen ab und führten ihre Pferde so selbstverständlich hinein, als würden sie es schon eine Ewigkeit Tag für Tag tun. Vor ihnen erhob sich im gleißenden Licht der Sonne der Palast, so hoch wie heute ein Wolkenkratzer und so breit wie 40 Pferdekutschen nebeneinander. Voller Freude liefen den Geschwistern zwei Stallknechte entgegen und übernahmen die Pferde. Gleich darauf betraten Vate und Justice die riesige Eingangshalle. An den Wänden glänzten riesige goldene und silberne Büsten, Figuren und Wasserspeier, wie in einem Opernhaus. Sogar die Dachkuppel war über und über verziert mit atemberaubenden künstlerischen Meisterwerken. Darunter hing ein riesiger gläserner Lüster. Staunen ließen die zwei ihre Augen in der Halle umherwandern. Dann beschritten sie gemeinsam die weit ausgelassene Marmortreppe direkt vor ihnen, die in einen erhöhten Teil des Palastes führte. Auch hier oben war alles bis ins kleinste Detail genau verziert. Nachdem sie zusammen alles im Palast erkundet hatten, begaben sie sich erst mal in ihre Gemächer um sich dem neuen Umstand entsprechend einzukleiden. Justice brauchte etwas länger, daher wartete Vate bereits unten in der Eingangshalle, als sie herunter kam. Die Beiden wussten genau, was sie nun zu tun hatten. Und zwar mussten sie hinunter ins Dorf und sich dem Volk vorstellen. Auch wenn Justice nur für die anderen Bewohner von Ceric Fergus eine Königin war. Denn die Etikette besagte ursprünglich, dass eine Prinzessin erst zur Königin gekrönt werden konnte, wenn sie verheiratet war oder bei besonderen Umständen. Und zu besonderen Umständen gehörte hier nicht das Versterben der leiblichen Eltern der Königskinder. Im Dorf tummelten sich sofort alle Menschen erfüllt von Freude, um ihre neue „Königin“ zu begrüßen. In jedem einzelnen Gesicht eines Jungen, eines Mädchens, eines Mannes, einer Frau zeichnete sich ein Lächeln der Freude ab. Alle gingen vor ihnen auf die Knie und sahen zu ihnen auf. Und so kam es, dass die Königskinder selbst in ein lautes herzhaftes Lachen ausbrachen und so die Freude wieder ins Land brachten. Selbst der missgelaunteste Griesgram musste mitlachen. Doch auch Wiedersehensfreude hat einmal ein Ende. So auch diese.

 

Als das Lachen verebbt war, stiegen die Geschwister von ihren Pferden und suchten einzelne Läden auf, um Gewänder und Nahrungsmittel in den Palast zu beordern. Der Bäcker erinnerte die Zwei daran, dass die Hoheit am Tage darauf ihren Ehrentag hätte. Damit meinte er Justic’ Geburtstag. „Wie gedenkt Ihr zu feiern Hoheit?“, fragte er höflich, „Solltet Ihr ein Festmahl planen stehe ich gern zur Verfügung!“ –„Daran habe ich noch gar nicht gedacht, mein Herr.“, erwiderte Justice nachdenklich, „Ich habe schon sehr lange meinen Geburtstag nicht mehr gefeiert, da ich seit damals weder Zeit noch Verwendung dafür hatte.“ Vate sah sie verdattert an. „Ihr habt seit damals nicht ein Fest erlebt?! Eine Schande!“ Die beiden verabschiedeten sich und ritten zurück zum Palast. Mittlerweile war es schon abends und Justice überfiel nach ihrer langen Reise die Müdigkeit. Erschöpft suchte sie ihr Schlafgemach auf. Entkleiden musste sie sich noch immer selbst, da sie kein Personal hatte, welches dies hätte übernehmen können. Es war ein Wunder, dass sie nicht schon im Stehen einschlief, so müde wie sie an jenem Abend war. Unterdessen erklang erneut dumpfes Hufgeklapper vor dem Palast. Diesmal waren es jedoch nicht zwei sondern vier Pferde, die immer wieder den Weg hinunter ins Dorf und zum Palast zurück auf sich nahmen. Drei von ihnen führten beladene Holzwagen und zugehörige Lenker oder auch Kutscher mit sich. Doch das alles registrierte die „Königin“ nicht mehr, weil sie bereits tief und fest schlief. Am nächsten Morgen erwachte sie von einem zaghaften Klopfen an der Tür. „Herein!“, sagte sie etwas schläfrig und drehte sich um, sodass sie den Eingangsbereich im Blick hatte. Ihr Blick weitete sich: „Gräfin Chantal Antoinette de Chagny!?!“, sprach sie verwundert. Die Dame mittleren Alters, die soeben eingetreten war, nickte. „Ja, ich bin es, mein Kind. Wie schön, dass Ihr Euch an Eure Tante noch erinnert, Prinzessin Justice.“, sagte sie erfreut, „ Doch nun kommt, bitte. Es wird Zeit! Man erwartet Euch.“ Kurzerhand wandte die Gräfin sich zum Kleiderschrank und suchte nach etwas Passendem für Justice. Diese stieg unterdessen aus ihrem Bett und ging zu einem Spiegel. Es dauerte gar nicht lang schon steckte sie in einem wunderschönen Kleid mit breitem Rocksaum und bekam von ihrer Tante eine schmale, reich verzierte Maske um den Kopf gebunden. Auch die Gräfin hatte sich währenddessen eine ebenso schöne Maske zu ihrem Gewand ausgesucht und aufgesetzt. Justice begriff überhaupt nicht, wieso sie so kokett aufgetakelt wurde. Auch auf ihre Fragen bekam sie keine Antwort. Plötzlich klopfte es erneut und ein junger Herr in der traditionellen Uniform des Anführers der königlichen Reiterstaffel trat herein. Erst auf den zweiten Blick erkannte Justice in ihm ihren Bruder wieder. Genau genommen erst als ein triumphales Lächeln seine Lippen umspielte. Er führte seine Schwester behutsam aus ihrem Zimmer heraus und durch den langen Flur zum oberen Ende der Treppe zum Kuppelsaal, der als Eingangshalle diente. Erst dort nahm er seine rechte Hand, die er ihr in ihrem Gemach auf die Augen gelegt hatte, herunter. Auf sein Geheiß hin hielt die Prinzessin ihre Augen aber dennoch geschlossen, bis er „Jetzt, Schwesterherz.“ sagte. Dann hoben sich langsam ihre Lider und gaben die Sicht auf etwas frei, was sie niemals geahnt hätte, sich aber schon immer gewünscht hatte. Unten im Saal standen abertausende von Menschen in kunterbunten, strahlenden Kostümen und Gewändern und alle waren maskiert. Jedes Gewand war einzigartig. Sogar die Musiker waren da keine Ausnahme. Es war wie im Traum. Das es Realität war bemerkte sie erst, als ihre Tante sie vor sich die Treppe hinunter gehen ließ, indem sie sie von hinten ein paar Mal in die Seiten piekte. Alle warteten nur auf das Kommando zum Start der Feier, was Justice auch voll Freude gleich erteilte nachdem sie unten angekommen war. Die Gräfin mischte sich unterdessen ins Getümmel. Alle sprachen der Prinzessin ihre Glückwünsche aus, bis ein Pfiff ertönte. Dann begleitete ihr Bruder sie zum Geschenktisch neben der Treppe. Auf diesem häuften sich Pakete mit Colliers, Ketten, Gewändern und massenhaft anderen wertvollen Sachen, wie sie nach langem Auspacken und dazugehörigen Danksagungen erkannte. Überglücklich wandte sie sich wieder ihren Gästen zu und eröffnete den Tanz.

 

Sofort begannen die Musiker zu spielen. Jeder tanzte mit jedem, ja, sogar der Prinz tanzte. Nur Justice sah zu. Das konnte ein junger Herr nicht mit ansehen. Er ging zu ihr, verbeugte sich und sprach: „Darf ich um diesen Tanz bitten?“ Seine dunkel angetönte Stimme klang wie Musik in ihren Ohren. „Es wäre mir eine große Ehre.“, erwiderte sie und folgte ihm aufs Tanzparkett. Genau im richtigen Moment denn es spielte ein flotter Tango. Während sie nun ungehalten mehr oder weniger über die Tanzfläche wirbelten sagte er zu ihr: „Oh, nein, Madame, es ist mir eine Ehre. Ihr tanzt leichtfüßig und elegant wie eine Feder im Wind.“ Die Prinzessin errötete. „Dank Euch edler Herr.“, antwortete sie zögerlich, „Ihr seid ebenfalls ein hervorragender Tänzer.“ Nach dem Tanz verbeugten sich die beiden noch einmal voreinander, nach alter Tradition. „Und mit wem hatte ich das Vergnügen, Monsieur ?“, fragte Justice hoffnungsvoll. Der Jüngling grinste. „Mein Name ist Jean – Erik – Aleandro de Lefreve, Madame, Sohn des Königs von Nostreamus.“ Dann küsste er sie auf die Hand und ging hinaus in den Palastgarten. Sie hingegen blieb für eine Weile wo sie war und sah ihm hinterher, dann wurde sie erneut zum Tanz aufgefordert. Einen Monat später, es war der Geburtstag ihres Bruders, gab es wieder einen Ball im Palast. Ebenso ein Maskenball wie beim Geburtstag der „Königin“. Der Saal war abermals gerappelt voll mit Familienangehörigen und Herrschaften von nah und fern, die sich diesmal neue Gewänder hatten einfallen lassen, sodass keiner so recht wusste wer nun sein Gegenüber beim Tanz war. Die Gesichter der Herren verbargen sich diesmal ebenso wie die der Damen hinter kunstvoll verzierten Masken und waren so kaum auseinander zu halten, was das Merken von Namen und Aussehen wahrlich erschwerte. Ein Graf glich einem Fürst, einem Vincomte, einem Prinzen oder einem König und umgekehrt. Auch mit den Titeln der Damen tat man sich schwer. Das führte immer wieder zu lautem Gelächter. Es hielt sogar bis nach dem Essen im Speisesaal im oberen Stockwerk an. Selbst das allseits beliebte Tratschen während des Dinners führte immer wieder zu Verwechslungen. Erst als alle wieder unten im Kuppelsaal mit tanzen beschäftigt waren verebbte das Lachen allmählich. In Gedanken versunken folgte Justice dem kunterbunten Gewusel nach unten. Eigentlich hatte sie gehofft den Prinzen von Nostreamus auf diesem Fest wieder zu sehen, doch gefunden hatte sie ihn nicht. Dann geschah etwas seltsames. Von irgendwoher aus dem Inneren des Palastes klang eine wunderbare Melodie in ihrem Ohr. Das Herz der Prinzessin begann zu rasen. Wie war das möglich? Es war doch gar keiner oben im Klavierzimmer. Oder doch? Hastig stieg sie die Treppe erneut empor und horchte. Für einen Moment dachte sie sie hätte nur eine Illusion gehört, doch dann hörte sie die Melodie wieder. Diesmal lauter und begleitet von einer scheinbar magischen Stimme. Kein einziger Ton war falsch gesungen, kein einziger verspielt. Fasziniert folgte sie der Melodie vorsichtig ins Klavierzimmer. Und da saß er, der geheimnisvolle Musiker. Er war bekleidet mit einem roten Umhang und einem farblich passendem Kostüm oder besser gesagt einem Anzug. Das er eine Maske trug musste man annehmen, da dies ein Maskenball war, nur erkennen konnte sie ihn nicht, da er mit dem Rücken zu ihr saß. Justice schwieg und hörte ihm zu. Nun erhob er wieder seine Stimme, ohne seinen heimlichen Zuhörer bemerkt zu haben. „Anmut und Schönheit ist ihr gegeben. Ihre Stimme, so sanft, wie die eines Engels ... Ihr Bild spukt tagein tagaus in meinem Kopf ... Solch eine Schönheit ist unentbehrlich. Wie soll ich es ihr nur sagen ...“, sang er. Die Prinzessin wusste nicht direkt wen er meinte, dennoch nutzte sie die folgende Gesangspause, um sich zur Melodie erkennbar zu machen. „Von wem singt Ihr, Monsieur, hier im Stillen?“, sang sie sanft. Erschrocken zuckte er zusammen und drehte sich zu ihr um. „Prinzessin von Piroir?“, fragte er perplex, „ Ich dachte Ihr wärt drunten im Saal!“, „Dachtet Ihr, Monsieur! Ich hörte Euch singen und kam hier herauf. Und ich sang, um Euch darauf aufmerksam zu machen, dass ich hinter Euch stehe.“, erwiderte sie, während sie ihn eingehend musterte, „Eigentlich spielte ich mit dem Gedanken mit einem bestimmten Herrn zu tanzen, allerdings war er nirgendwo anzutreffen ... Nun denn, dann werde ich mich wieder unters Volk mischen. Es hat wohl nicht sollen sein.“ Mit diesen Worten verließ sie das Klavierzimmer und verfiel wieder ins Nachdenken. Diesmal allerdings sang sie ihre Gedanken traurig frei heraus: „Wo seid Ihr nur Monsieur de Lefreve ... Mein Wunsch ist es Euch zu sagen, dass ich mich in Euch verliebt hab ... Könnt auch Ihr so herrlich singen, wie Ihr zu tanzen pflegtet?“ Dann verstummte sie und begab sich zum Tanz in den Kuppelsaal. Nachdem sie zum dritten Mal den Tanzpartner gewechselt hatte, unterbrachen die Musikanten plötzlich mittendrin ihr Musikstück. Im selben Moment erklang im gesamten Palast das Klavierstück, das sie vorhin vernommen hatte. Nur lauter und klarer, für alle zu hören. Da war sie wieder, diese Stimme, gespickt mit so viel Magie und Zärtlichkeit, mehr als zuvor. Reflexartig wandte sich Justice von ihrem Tanzpartner ab und folgte den Blicken der anderen Anwesenden hinauf zum Treppenende. Just dort oben stand er, der Mann aus dem Klavierzimmer. Sein roter Umhang fiel ihm locker über die Schulter und sein Gesicht verzierte eine wunderschöne schwarze Maske aus Seide. Freundlich lächelte er sie an. Dann schritt er nach und nach die Treppe herunter auf sie zu. Dabei sang er sein Lied so sanft er konnte, aber gleichzeitig auch so laut, dass es jeder im Saal verstehen konnte.: „Ihr rieft mich leise bei meinem Namen. Ließt von meiner Musik Euch leiten. Ich hörte Euren Wunsch mit Freuden, nun bin ich hier, mein Engel. Ihr wart es der mein Lied gebührte, welches Ihr vorhin hörtet. Seit damals beim Ball seid Ihr in meinem Herzen, nur verzagte ich es Euch zu sagen.“ Mit einem gekonnten Sprung landete er vor der Prinzessin und das Klavier verstummte. Davon ließ er sich nicht zurückhalten. Das Orchester wurde von ihm dazu angehalten einen Tango wie den beim Ball zuvor zu spielen und als es das tat, schnappte er sich die verwirrte „Königin“ und tanzte mit ihr. Als das Lied zu ende war hielt er sie gekonnt in seinen Armen, sodass er ihr direkt in die Augen sehen konnte und sprach: „So habe ich Euch doch noch gefunden, Madame.“ Als Justice das vernahm und die staunenden Blicke der Festgäste um sich herum sah, wurde sie sofort rot im Gesicht. Ihr Herz klopfte wie wild. „Monsieur de Lefreve!“, hauchte sie atemlos, „ Was wollt Ihr damit sagen ?“ Doch anstatt zu antworten grinste er nur, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sacht auf den Mund. „Ich liebe Euch, Madame.“, sagte er, „Ihr geht mir seit Eurem Geburtstagsball nicht mehr aus dem Kopf.“ Dann stellte er sie wieder gerade hin und ließ sie los. Wie beim letzten Mal wollte er sich ohne Abschied von dannen machen, doch diesmal gelang es der Prinzessin ihn daran zu hindern. Sie ergriff, gerade als er dabei war sich von ihr abzuwenden, eines seiner Handgelenke und drehte ihn wieder zu sich um. „Nicht ganz so geschwind, Monsieur, Ihr übersaht in Eurer Hast etwas das Euch meinen Mund verwehrte!“, sprach sie und zog mit einem kurzen Ruck das durchsichtige Seidentüchlein von ihrem Gesicht, das sie die ganze Zeit getragen hatte, „Ihr bekommt noch etwas von mir!“ Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf seine Lippen. Der Prinz von Nostreamus schaute erst etwas verwundert, dann schloss er die Augen und drückte sie an sich. Ihm war egal, dass die anderen Gäste jubelten und der Bruder der Prinzessin Maulaffenfeil hielt. Er hatte sein Ziel erreicht. Nun kannte er ihre Antwort auf seinen Wunsch. Sie hatte sich ebenfalls an jenem Abend ihres 17-ten Geburtstages in ihn verliebt wie er mit seinen 18 Jahren in sie. Das war ihm jetzt bewusst. Am liebsten hätte er sie auch nach dem Kuss noch lange in seinen Armen gehalten, doch für ihn wurde es allmählich Zeit nach Nostreamus zurück zu kehren. Daher fasste er sich kurz. „Madame, ich würde mich freuen, wenn ich Euch meinem Vater vorstellen dürfte. Bitte kommt mit mir nach Nostreamus. Es wäre ja nur für drei Tage. Ich bitte Euch!“ Justice überlegte. „Aber ich bin noch gar nicht lange wieder hier und wüsste nicht wer mich würdig vertreten könnte solange ich fort wäre.“, sagte sie wenig später. Da wandten sich die Blicke der Gäste auf eine einzige Person, auf ihren jüngeren Bruder Prinz Vate. Als auch seine Schwester und Monsieur de Lefreve zu ihm herüber sahen, protestierte er erst, gab sich dann aber geschlagen. „Nun gut, so sei es, ich will dem Glück meiner Schwester schließlich nicht im Wege stehen.“, gab er bekannt. „Und ich werde Eurem Bruder ein wenig unter die Arme greifen, werte Nicht.“, sagte die Gräfin de Chagny und stellte sich neben ihn. Überglücklich lief die Prinzessin zu den beiden hin und umarmte sie. „Mach’s beste draus, mein Kind.“, flüsterte ihre Tante ihr ins Ohr. Justice nickte. Wenig später verabschiedete sie sich von allen Gästen und stieg in die Kutsche. Die Gäste winkten ihr mit Tüchern nach (jedenfalls die Damen). Zwei Tage und eine Nacht dauerte die Reise an, dann kam der Palast der Familie de Lefreve endlich in Sicht. Staunend streckte die Prinzessin ihren Kopf durch das Fenster der Kutschentür. „Wie schön!“, sagte sie beeindruckt als sie das goldene Eisentor durchquert hatten und auf dem Vorplatz im Palasthof anhielten, „... Und alles ist so groß! Viel größer und prachtvoller als alles, was ich bisher sah, Monsieur!“ Der Prinz schmunzelte. „Schön dass es Euch gefällt, Madame. Morgen werde ich Euch alles zeigen.“, erwiderte er und half ihr beim Aussteigen. Während die Kutsche abfuhr, begaben sich die zwei Turteltäubchen hinein in die Eingangshalle. Dabei hielt er sie an der Hand, damit sie nicht verloren ging. „Vater, ich bin zurück!!“, rief er drinnen laut aus, „Und ich möchte dich mit jemandem bekannt machen!“ Irgendwo wurde eine Tür geöffnet und knarrend und mit lautem Knall wieder ins Schloss fallen gelassen. Dann waren geschwinde Schritte zu vernehmen, bis endlich ein hagerer Mann am oberen Rand der Treppe zur ersten Etage des insgesamt zehnstöckigen Palastes erschien. Dieser war dem Prinzen wie aus dem Gesicht geschnitten. „Jean – Erik, mein Sohn!“, rief der Mann voll Freude, während er hastig die Treppe hinunter lief, „Und du hast jemanden mitgebracht?!?“ „Ja, Vater, so ist es.“, antwortete der Prinz gemächlich, als sein Vater vor ihnen stand und wies auf Justice. Der König war entzückt und musterte sie aufgeregt. „Welch eine Ehre Euch hier begrüßen zu dürfen!“, sagte er zu ihr und verbeugte sich. „Ganz meinerseits, Euer Hoheit!“, erwiderte sie und knickste, wie es sich gehörte. „So ein Zufall!“, begann König de Lefreve erneut, „Die Tochter meiner eigenen ersten großen Liebe ist bezaubernd und fällt meinem Sohn in die treuen Hände...Wie lautet Euer vollständiger Name, Madame?“ –„Mein Name ist Justice – Vanessa – Marciell von bzw. de Piroir, Mylord, Prinzessin und zukünftige Königin von Ceric Fergus!“ –„Wundervoll! ... Jean – Erik – Aleandro hat mir schon viel über Euch erzählt. Er sprach von nichts anderem mehr als von Eurer Anmut und Eurer lieblichen Stimme.“, sprach der König und lachte, „Er scheint Euch wirklich sehr zu lieben, Madame!“ Der Prinz wurde rot und sah in der Gegend umher. Das brachte Justice zum kichern. „Auch ich liebe Euren Sohn sehr, Monsieur, dessen könnt Ihr Euch gewiss sein.“ „Nun denn, Ihr seid sicher müde von der langen Reise ... Ihr könnt Euch eines der Gemächer im Südflügel als Ruhestätte aussuchen...Bis morgen!“, erwiderte der König und verließ die Eingangshalle. Das Pärchen machte sich sofort auf den Weg zu den Gemächern im Südflügel. Die Prinzessin belagerte das einfachste der Gemächer, während er sich in den Ostflügel zu seinem eigenen Gemach begab. Wenige Minuten später war im gesamten Palast völlige Ruhe eingekehrt.

 

Am nächsten Morgen, die Sonne signalisierte schon die Mittagszeit, durchschritten Prinz Jean und Justice gemeinsam Hand in Hand den riesigen Palastgarten. Später zeigte er ihr die Ställe, den Thronsaal, den großen Balkon über dem Vorplatz und die gesamten Musiksäle und Ahnengalerien im Palastinneren. Nach dem reichlichen Mahl am frühen Abend zogen sie sich noch einmal auf den Balkon zurück und betrachteten die glänzenden Sterne am dunklen, klaren Himmel. Es herrschte eine angespannte Stille. Keiner von den beiden sagte etwas. Bis der Prinz Mut fasste und das unerträgliche Schweigen mit etwas für Justice unerwartetem und überraschendem brach. „M – Madame, ich habe Euch etwas Wichtiges zu fragen!“, begann er und kniete vor ihr nieder als sie sich zu ihm gedreht hatte, „Würdet Ihr...nein...Möchtet Ihr meine Gemahlin sein?“ Justice zog ihn wieder auf seine Füße, sodass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. „J – Ja, sicher. Sehr gern!“, erwiderte sie zugleich überrumpelt und freudig.

Was folgte war ein langer Kuss und der Weg hinunter in die Eingangshalle, um die Rückreise anzutreten. Ohne großen Tumult gab der König erleichtert seinen Segen für die Vermählung und ließ die Kutsche vorfahren. Die fortan „Verlobten“ stiegen hinein, verabschiedeten sich von ihm und hießen den Kutscher an los zu fahren. Beim Schlaf während der Reise lag die Prinzessin längs auf der Innenbank mit dem Kopf auf dem Schoß ihres Geliebten. Wenn sie nicht schlafen konnte, sang er ihr das Lied vor, das er damals für sie geschrieben hatte, nachdem sie zum ersten Mal miteinander getanzt hatten. Wieder vergingen zwei Tage und eine Nacht wie im Flug. Doch diesmal erwartete die zwei ein schrecklicher Anblick. Als die Kutsche ins Dorf von Ceric Fergus einfuhr, war alles anders als in ihrer Erinnerung. Kein Mensch war zu sehen. Einige der Häuser standen sogar in Flammen, andere wiederum drohten einzustürzen oder waren niedergebrannt. Alles war verwüstet und zerstört. Sogar der Dorfbrunnen lag voll von Trümmerstücken. Fassungslos sah der Prinz aus dem Kutschenfenster und weckte die Prinzessin. Auch sie sah aus dem Fenster, blass sank sie auf ihren Sitzplatz zurück. „Was ist hier geschehen?“, keuchte sie erschrocken. Den Rest der Fahrt hoch zum Palast wagten sie keinen Blick mehr hinaus. Erst als sie ausgestiegen waren drehten sich beide einmal um die eigene Achse, um sich das Ausmaß des Geschehens anzusehen. Ihren Augen bot sich auch hier auf dem Vorplatz ein entsetzliches Chaos. Das schwere Eisentor war an einer Torseite aus der Mauer gerissen, die Bäume auf den Rasenflächen waren einmal schräg abgeschlagen, wie von einem Schwerthieb und mehrere Glasschreiben vom Erd- bis zum Dachgeschoss des Palastes lagen in abertausend Scherben zersplittert vor ihren Füßen. Sogar der Eingang zum Palast selbst war übersät von klaffenden Löchern und stand sperangel weit offen. Eilig liefen die beiden in die Eingangshalle.

 

„Vate, wo bist du!!“, schrie Justice. Niemand antwortete. „Vate!!“, rief sie noch einmal, „Tante Antoinette de Chagny, antwortet doch!“ Nichts. Nicht ein einziger Ton. Schluchzend fiel sie Jean – Erik in die Arme. Zusammen durchstreiften sie den Palast. Was war hier nur geschehen? Plötzlich waren schwere Schritte zu hören, die immer näher kamen. Die Prinzessin horchte auf. Wer konnte das sein? Es hatte doch niemand ein Lebenszeichen von sich gegeben. Als sie ihren Blick zu ihrer Linken wandte, sah sie jemanden auf sich und Jean zu laufen. Gerade wollte der Prinz sich zu ihrem Schutz vor sie stellen, da erkannten beide das Gesicht von ihrem Bruder. „Monsieur de Piroir, was ist hier geschehen?“, fragte Jean – Erik aufgebracht, „Ihr habt uns zu Tode erschreckt!“ Vate verlangsamte seinen Schritt und kam keuchend vor ihm zum stehen. „Krieger...aus dem Hochland...haben alles zerstört...Antoinette...Francoir...Dorfbewohner...Orgelsaal...“, war das Einzige was er herausbrachte bevor er kraftlos zusammenbrach. „Wie schrecklich! Ich muss zu ihnen!“, sagte Justice erschrocken, nachdem sie ihren jüngeren Bruder aufgefangen hatte. Gesagt getan. Jean nahm Vate huckepack und los ging es ins oberste Stockwerk zum Orgelsaal. Das Treppenhaus schien kein Ende zu nehmen. Nicht umsonst war der gesamte Palast 8 Stockwerke hoch. Doch der ganze achte Stock war anders als alle anderen Stockwerke. Hier gab es nur einen einzigen Raum. Den riesigen Saal mit der ebenso unermesslich riesigen Orgel in Silber, die die Hälfte des ganzen Saales einnahm und bis nach Saleon zu hören war.

 

Atemlos standen die zwei mit Vate im Schlepptau vor der Tür zum Saal. „Tante de Chagny!“, rief Justice, doch alles was sie zu hören bekam war ein vielstimmiges „Mmmhmm!“. Da stimmte etwas ganz und gar nicht. Während Jean ihren Bruder an der Wand behutsam ablegte, wagte sie bereits den ersten Schritt hinein. Ganz bedacht setzte sie Fuß vor Fuß und ging aufs andere Ende des Saales zu. „Eine Falle!!!“, hörte sie Jean plötzlich hinter sich brüllen. Sie drehte sich um und erschrak. Die Gräfin, ihr Gatte und die Dörfler saßen zusammengedrängt mit Fesseln und Knebeln neben der Tür an der Wand. Justices Verlobter rang mit zwei Kriegern und kam nicht von der Stelle. Und jetzt kamen auch noch einige der Krieger auf sie zu. Unentschlossen und überrumpelt sah sie von einem im Saal zum nächsten. Dabei wich sie immer weiter zurück, bis sie an die ersten Orgelpfeifen stieß. Hämisch grinsend schritten die Krieger auf sie zu. Weiter und weiter. Immer näher. Ihre Gedanken überschlugen sich. Bilder flogen vor ihrem inneren Auge an ihr vorbei. Früher, heute, ihr Vater, ihre Mutter, ihr Bruder, Gesang, Klänge, laut, leise, schrill, Klavier, Orgel. Alles raste an ihr vorbei. Die geknebelten und gefesselten Geiseln, der Prinz, die nahenden Krieger, sie selbst, die Orgel, laut. Fieberhaft versuchte sie einen Ausweg zu finden. Die Krieger, sie, laut, ... Orgel. Immer wieder ging sie alles in vermischter Reihenfolge durch. Endlich hatte sie eine Idee. Ein Mensch kann keine urplötzlichen Klänge in überhöhter Lautstärke ertragen. Er muss sich reflexartig schützen, dachte sie, und hier konnte sie mit Hilfe eines einzigen Gegenstandes solche Klänge hervorbringen. Die Orgel! Da die ersten Orgelpfeifen wie eine Treppe in den Fliesenboden eingelassen waren, war es für Justice eine Kleinigkeit galant wie eine Gazelle über die Kleinste zu springen, die dahinter liegenden höheren Orgelpfeifen zu umrunden und zum Kernstück der riesigen Orgel vorzudringen. Binnen weniger Minuten saß sie vor den Tasten. „Jean, Onkel und Tante de Chagny, Dorfbewohner versucht euch irgendwie zu entfernen und zu entfesseln!“, rief sie. Die Krieger kamen näher, sie konnte es deutlich hören. 1...2...3...Karacho! Reflexartig schlug Justice die höchsten Töne an und begann zu spielen. Sie spielte das bedrohlichste und lauteste Lied mit hohen Tönen das sie kannte. Hinter sich hörte sie ganz leise das Klirren der fallenden Waffen der Krieger. Sie schrien vor Schmerz und fielen dumpf zu Boden, die Krieger aus dem Hochland. Überwältigt durch Musik. Dadurch konnten sich die armen Geiseln mit Hilfe von Jean – Erik befreien und aus dem Saal fliehen.

 

Nach einer gefühlten Viertelstunde beendete die Prinzessin ihre Darbietung und kam hinter der Orgel hervor. Die Krieger lagen gekrümmt zu ihren Füßen auf dem Boden und zitterten wie Espenlaub, während sie sich krampfhaft die Ohren zuhielten. Vorsichtig stieg Justice über sie hinweg. Anscheinend dröhnen denen noch immer die Ohren, dachte sie sich. Da ergriff plötzlich eine eiskalte Hand ihren Knöchel. Vor Schreck schrie sie auf. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen Prinzessin. Wir kehren zurück und dann wird Euer Königreich untergehen !“, zischte der Krieger, „Wir sehen uns wieder !“ „Nicht wenn ich euch zuvor in den Krähenturm sperre!“, erwiderte Jean – Erik bissig und trat dem Krieger mit voller Wucht auf den Arm. Er war sofort hoch gelaufen als er ihren Schrei vernahm. Der Krieger zog seine Hand zurück und fluchte. „Das wird Euch noch leid tun!“, zeterte er. Jean hatte unterdessen damit begonnen alle Krieger zu fesseln und zu knebeln, wobei er sehr genau darauf achtete alle mit einem Zwischenseil aneinander zu binden, sodass sie eine Reihe bildeten und keiner entfliehen konnte. Zuletzt kam der fluchende Miesepeter an die Reihe. Dann zog er den ersten Krieger auf die Beine und die anderen mussten folgen. Mit der freien Hand nahm er seine Verlobte mit sich. „Du bist wirklich ein Engel.“, flüsterte er ihr ins Ohr, „Mein Engel der Musik!“. Unten in der Eingangshalle warteten bereits Graf und Gräfin de Chagny, die Vate auf den Beinen hielten und hinter ihnen die Dorfbewohner. Jubel brandete auf, als die Krieger gefolgt von Justice und Jean – Erik die Treppe herunter kamen. Francoir de Chagny erklärte sich bereit die Unruhestifter den Wachen vom Krähenturm zu übergeben und machte sich sofort mit der nächsten Kutschenkolonne auf den Weg dorthin. Währenddessen wurde die Prinzessin drinnen in der Eingangshalle von Vate und der Gräfin erleichtert in die Arme geschlossen. Der Prinz beobachtete alles von der Treppe aus, als würde er gar nicht dazu gehören. Als Justice das sah, löste sie sich aus der Umarmung. Vorsichtig ging sie auf ihn zu. Er sah nur zur Seite. Sie grinste und hielt ihren Blick auf ihn gerichtet. „You alone are my angel of music...you are my angel of love...“, sang sie zärtlich. Das tat sie mehrmals, während sie immer weiter auf ihn zu ging. Sie war selbst überrascht vom Klang ihrer Stimme. Sprachlos drehte der Prinz sich zu ihr um und starrte sie an. Wie oft hatte er in sich den Wunsch verspürt sie noch ein Mal richtig singen zu hören. Jetzt hatte sich dieser Wunsch erfüllt. Überglücklich stand er auf und schloss sie in seine Arme. Mit einem Mal begannen die Dorfbewohner einen Singsang, so als würden sie sich gegenseitig erzählen was sie sangen. „They are the angels of music!“, erklang im ganzen Saal mehrstimmig. Später wurden alle Dorfbewohner in die vielen Palastgemächer einquartiert. Ebenso Gräfin de Chagny und Vate. Natürlich auch der Prinz. Für die folgenden Tage standen Hochzeitsvorbereitungen auf der Tagesordnung. Und nicht zu vergessen die Krönung. Drei Tage später hatte Ceric Fergus neue Regenten. Seitdem herrscht dort nicht mehr Prinzessin de Piroir, sondern es herrschen König und Königin de Lefreve.

 

Ende

 

 

©Sabrina Goebel



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