Die Ruine

 

Vor gar nicht allzu langer Zeit gab es hier in Liscom ein altes verlassenes Haus.

Es war so alt, dass es von außen schon aussah als ob es im nächsten Augenblick einstürzen würde. Die Fensterläden aus schwarzem Ebenholz hingen im oberen Stock nur noch an einer Angel und schaukelten beim kleinsten Windstoß dem Absturz nahe vor den zertrümmerten Fenstern hin und her, der Putz war an manchen Stellen so weit abgebröckelt, dass man bis auf die blanken Grundsteine der Mauern sehen konnte und auch sonst war das Haus verwahrlost bis ins kleinste Detail. Kurz und gut war es also genau das Richtige für eine Ruinennärrin wie mich. Ich bin Safira Darkmoon, ein 17 jähriges Mädchen mit einer Größe von 1,71 m, blauen Augen, dunkelblonden Haaren bis kurz unter die Schulterblätter, einer schlanken Taille und neben Ruinen ist die Nacht mein liebstes Zuhause.

*

Jede Nacht saß ich in meinem Zimmer im ersten Stock am Fenster und sah hinaus, denn seit meine Mutter vor wenigen Monaten verstorben war, hatte ich mich immer weiter zurück gezogen. Nachts wie auch am Tage war ich immer wieder auf der Suche nach besonderen Kulissen für Fotos, auch wenn meine Gedanken sehr oft eher bei meinem Freund im abgelegenen Nachbarort waren, als bei dem was ich eigentlich tat. Schon oft hatte ich das alte Haus von außen fotografiert, immer andere Perspektiven ausprobiert, doch je mehr ich mich mit dem äußeren Anblick beschäftigte, desto mehr zog es mich hin auch das Innere zu erkunden. Ich kann es nicht beschreiben, aber dieses alte verfallende Haus hatte irgendetwas an sich was mich verzauberte. Es war seltsam. Ich brauchte nur daran vorbei zu gehen, schon waren die schweren Jahre meiner Kindheit und der Zeit vor dem Tod meiner Mutter vergessen. In solchen Momenten existierten nur noch meine Liebe und meine Freunde für mich. Der Rest war wie ausgelöscht, bis auf das alte Haus.

*

Auch heute war ich wieder daran vorüber gegangen und hatte etwas Magisches gespürt.

Zu Hause war ich gleich hoch in mein Zimmer gelaufen, hatte Musik angestellt und am Computer über die Geschichte des Hauses recherchiert. Zuerst fand ich keine sonderlich interessanten Informationen, doch dann, etwas später am Abend, stieß ich doch noch auf einige höchst interessante Angaben über die Geschichte des Hauses, die ich mir sofort notierte.:

 

-          Besitzer:      wunderliche Gestalten, vier Personen – Elternpaar mit zwei Kindern – Tochter & Sohn, tagsüber kaum zu sehen

-          Haus:      vier Dachböden, aberwitzig viele Treppen, altes Kellergewölbe mit Kriechgängen, ...

 

Die Liste auf der Seite schien schier unendlich.

Aber eines fiel mir ganz besonders auf.

Keiner der Bewohner schien mehr zu existieren, wie in einem Abschnitt mit dem Jahr 1992 zu lesen war. Demnach waren beide Elternteile für tot erklärt und lagen auf dem städtischen Friedhof, der Sohn galt als vermisst und die Tochter wurde an jenem Schicksalstag in ein Heim gebracht.  Seitdem fühlte sich keiner mehr zuständig für das Haus. Aber wenn die Tochter noch lebe, so stand es dort, und ihr Bruder verschollen bliebe, dann würde das Grundstück mit dem Haus und alles was dazu gehörte rechtmäßig ihr gehören.

Am unteren Ende der Seite waren unter dem Text auch noch alte Bilder der betreffenden Familie abgebildet, doch keines zeigte die Tochter. Der Platz an dem ein Bild von ihr hätte sein sollen, war leer. Nur der Name gab Auskunft über das Mädchen was dort abgebildet sein müsste. Ihr Name lautete Luna, S. Zitras.

Hier schaltete ich den Computer aus.

*

„Seltsam, warum gibt es kein Foto von ihr und für was steht dieses „S.“ ?“, dachte ich und sah hinüber zum Haus unserer Nachbarn. Dort war alles still. Kein Licht, kein gar nichts.

Eine ganze Weile beobachtete ich was draußen auf den Straßen passierte. „Ich Dummkopf!“, sagte ich leise zu mir selbst, „Es sind doch nicht alle solche Nachtwesen wie ich.“ Gerade wollte ich mich vom Fenster abwenden, da bemerkte ich etwas Sonderbares.

Es schien doch jemanden wie mich zu geben. Auf der anderen Straßenseite huschte eine schwarz gekleidete Gestalt unter den Laternenlichtern hindurch und steuerte geradewegs auf unser Haus zu. Ich rückte näher ans Fenster. Der unbekannte Besucher zog etwas aus seiner Tasche und legte es vor unsere Tür, dann verschwand er wieder.

Am nächsten Morgen stellte sich heraus, das es ein kleines Päckchen gewesen war. Mein Vater hatte es zum Frühstück mit der Post rein geholt und mir gegeben. Das Adressetikett war mit einer ziemlich krakeligen Handschrift beschriftet, doch man konnte meinen Namen einwandfrei entziffern. Nach dem Frühstück nahm ich das Päckchen mit hinauf in mein Zimmer. Dort stellte ich es auf mein Bett und setzte mich daneben. Eine ganze Weile betrachtete ich das Päckchen, doch berühren oder gar auspacken konnte ich es aus irgendeinem Grund nicht. Irgendetwas sagte mir jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt dazu.Also ließ ich es dort stehen und ging zu meinem Schreibtisch.

*

Warum hatte man mir so ein Päckchen geschickt?! Und noch dazu solch ein altes. Der Karton des Päckchens war schon an vielen Stellen eingedrückt und an anderen Stellen zierten ihn winzig kleine Risse. Es hatte den Anschein als ob es im nächsten Moment zu Staub zerfallen würde, so schäbig sah es aus. Was befand sich bloß darin?! Ich fühlte mich wie ein Kind, das ein Geschenk zu früh gefunden hatte. Wieder sah ich zu dem Päckchen hinüber. Meine Finger begannen zu kribbeln. In dem Päckchen war irgendetwas was mich zur Lösung des Rätsels der Erbin der Zitras bringen konnte, das spürte ich. Über meine Faszination für das Päckchen hinweg schien ich völlig die Zeit vergessen zu haben, denn als mein Vater mich plötzlich zum Mittagessen herunter rief, wurde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Sowas närrisches. Da bekam ich ein Päckchen und was war, ich führte mich auf als wäre das mein Weltuntergang schlechthin. Echt albern. Plötzlich fiel mir etwas auf. Die Stimme meines Vaters hatte so einen traurigen und bedrückten Ton an sich gehabt, als er nach mir rief. Da stimmte etwas nicht. Und genau das sollte sich bestätigen wenn ich unten war, doch davon ahnte ich noch nichts, als ich die Treppe hinunter ging.

*

Mein Vater schien mit irgendeiner Person zu reden, die mir nicht bekannt war. Schweigend betrat ich die Küche. Mein Vater wandte sich mir zu. Sein Blick war ernst als er mir sagte ich solle den Gast begrüßen. Ich tat es und setzte mich meinem Vater gegenüber, den jungen Mann neben ihm, den ich begrüßen sollte, immer im Blick. Mir war als hätte ich ihn schon mal irgendwo gesehen, doch ich wusste nicht wo. Als wir gegessen hatten. Erhob mein Vater das Wort. „Safira ...“, sagte er kleinlaut, „Ich glaube es wird Zeit dir etwas Wichtiges zu zeigen.“ Verwirrt sah ich von ihm zu dem jungen Mann und schließlich wieder zu ihm. Er entfaltete ein leicht vergilbtes Stück Papier und schob es zu mir über den Tisch. Es war eine Geburtsurkunde. Als mein Vater merkte, dass ich nicht verstand, legte er zwei weitere Zettel daneben. Erst eine zweite Geburtsurkunde, die noch älter zu sein schien als die erste, dann einen Wisch auf dem als Titel „Adoptionsschein“ stand. Der junge Mann neben ihm schien bemerkt zu haben, dass ich noch immer nicht ganz folgen konnte und tippte mehrmals auf die beiden Namens- und Datumszeilen der Geburtsurkunden. Ich folgte seinen Fingern von Zeile zu Zeile auf den Urkunden und glaubte meinen Augen nicht. Auf der ersten stand mein jetziger Name und mein Geburtsdatum und auf der zweiten der Name Luna – Safira Darkmoon und das selbe Datum. Zusätzlich war die zweite Zeile mit geboren als und dem Namen Zitras ausgefüllt. Mein Blick wanderte weiter zum „Adoptionsschein“ und da war mir plötzlich klar was mein Vater mir damit sagen wollte und auch woher ich den jungen Mann kannte. Ich war das Mädchen, das früher ins Heim gegeben wurde. Das Mädchen, das auf keinem Bild zu sehen war. Ich war Luna – Safira Zitras ! Wie der Blitz schoss ich vom Stuhl hoch und stürmte in mein Zimmer. Mit einem großen Sprung landete ich auf meinem Bett und schnappte mir das Päckchen. Allein mit meinen langen Fingernägeln riss ich es auf und beförderte so etwas ans Tageslicht, was sich als ein Schlüsselbund mit antiken Schlüsseln und einem schmalen Bilderrahmen entpuppte. In dem Rahmen steckte ein altes Bild auf dem ein kleiner Junge mit einem Säugling zu sehen war. Der Säugling sah aus wie auf einem der Babyfotos, die ich von früher kannte. Und der Junge der den Säugling hielt glich dem jungen Mann aus der Küche bis aufs Haar. Beide waren in den Gesichtern völlig mit Staub und Dreck bedeckt und die Kleider waren an manchen Stellen zerrissen. Im Hintergrund erkannte ich die Ursache dafür. Der Junge stand mit dem Säugling vor einem brennenden Haus. Während ich dort saß und das Bild bis ins kleinste Detail untersuchte, hörte ich wie jemand hinter mir ins Zimmer trat. „Luna“, sprach eine dunkle Stimme sanft. Es war die Stimme des jungen Mannes aus der Küche. Anscheinend hatte er das Bild und das zerrissene Päckchen gesehen, denn er kam zu mir und nahm mir das Bild vorsichtig aus der Hand. Als ich mich umdrehte sah ich wie er es mit Tränen in den Augen betrachtete. Unfähig mich zu erheben blieb ich wo ich war. „Da warst du noch mein Lunchen...“, schluchzte er. Wie als wenn das der erlösende Satz gewesen war, lief ich weinend auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Ohne zu wissen warum schluchzte ich und sagte das Wort, das früher laut meinem Adoptivvater mein erstes Wort überhaupt gewesen war. Ich brauchte nur dieses eine Wort.

*

„Johnny...“, schluchzte ich. „Du erkennst mich also wieder....“, sprach er freudig. Das Bild fiel zu Boden. Doch nur weil er es fallen ließ um mich zu umarmen. Eine ganze Weile standen wir nur so da und lagen uns gegenseitig in den Armen. Dann löste ich mich von ihm und setzte mich wieder auf mein Bett. Er tat es mir gleich und setzte sich neben mich. Das Bild wieder fest in der Hand sah ich aus dem Fenster hinaus, hinüber zur alten Villa. „Wo bist du die ganzen Jahre gewesen?“, fragte ich ihn wenig später, denn ich begehrte nach Antworten, „Und wie hast du mich gefunden?“ Er seufzte. „Ich bin fort gelaufen und war mal hier mal da, bis mich eine Zirkusfamilie freundlicher Weise aufgenommen hat. Sie wussten sofort wer ich war und haben keinerlei Mühe gescheut. So kam ich noch mit dem Leben davon und konnte dich mit ihrer Hilfe suchen. Irgendwann fielen mir dann die alten Unterlagen des Heims in die Hände und so hab ich dich gefunden.“ Er grinste kurz. „Doch es soll noch schlimmer kommen, Luna, da mich keiner mehr zu den Lebendigen zählt und keiner deine und meine wahre Geschichte kennt, rücken alle wohlhabenden Leute dieser Stadt unsere Familie in schlechtes Licht und erheben Anspruch auf unseren Grund und Boden.“ So schnell sein frohes Grinsen gekommen war, verschwand es auch wieder. „Wie meinst du das?“, fragte ich. „Nun“, erwiderte er, „Die Villa und das Grundstück worauf sie erbaut ist sollen schon morgen versteigert werden und die Reichen dieser Stadt geben an unsere Eltern hätten die Villa absichtlich in Brand gesteckt um uns in den Tod zu stürzen, weil sie in dunkle Geschäfte verwickelt wären und weil wir Kinder der Nacht sind, also anders, eben keine normalen Kinder.“ Wieder sah ich hinüber zur Villa. Mein Verstand sagte mir ich musste kämpfen, doch zuvor wollte ich wissen woran ich mich nicht erinnern konnte. Anscheinend schien mein Bruder zu verstehen was ich wollte, denn er nickte mir zu.

*

Der nächste Morgen. Die Vögel zwitscherten vor meinem Fenster und flogen davor auf und ab als wollten sie mich begrüßen. Beim Frühstück traf ich wieder auf meinen Bruder. Mein Adoptivvater war zur Arbeit gegangen, daher hatten wir freie Hand. Er hatte meinen Bruder ins Gästezimmer einquartiert, als er am vorigen Abend von meinem Vorhaben erfuhr. „Guten Morgen, Schwesterherz.“, begrüßte mich Johnny als ich die Küche betrat. „Morgen, Johnny.“, erwiderte ich lächelnd und setzte mich zu ihm an den Tisch. Nach dem Essen sammelten wir alle Urkunden und sonstige Beweisstücke zusammen und machten uns auf den Weg zum Rathaus um bei der Versteigerung mitzumischen. Während wir da nun unseres Weges gingen, schwiegen wir uns an, denn keiner wusste was auf der Auktion genau passieren würde. Das Schweigen hätte den ganzen Weg überdauert, hätte Johnny es nicht gebrochen. „Weißt du eigentlich, das du Mutter sehr ähnlich siehst?“, fragte er plötzlich und sah lächelnd auf mich herab. Da er nur anderthalb Köpfe größer war als ich, sah es ziemlich lustig aus, denn er legte dazu den Kopf schräg nach links, weil ich rechts von ihm ging.

Als ich das sah musste ich prompt lachen, es sah einfach für sein Alter viel zu süß und kindlich aus. „Wirklich?“, fragte ich ihn, noch immer leicht lachend nach einer Weile. „Allerdings.“, antwortete er. In seiner Stimme schwang Erinnerungstrauer mit. „Nicht nur das du ihr ähnlich siehst du hast auch zum Teil ihren stürmischen Charakter.“ „Ja, ich geh leicht in die Höhe das stimmt.“, scherzte ich. Beinah wären wir vor lauter Erinnerungen am Rathaus vorbei gelaufen. Gerade noch rechtzeitig fiel mir das auf und ich zog Johnny mit einem Ruck ins Innere des Gebäudes. Eine Anschlagstafel wies den Weg zum Saal in dem die Auktion stattfinden sollte. Ihn zu finden dauerte nicht annähernd so lang wie ich gedacht hatte. Vor der Saaltür blieben wir noch einmal stehen und lauschten. Gerade sagte eine dunkle Männerstimme mit knarrendem Nachklang das nächste Auktionsobjekt an und versuchte es den Teilnehmern schmackhaft zu machen. „Kommen wir nun zu Objekt Nummer 365.“, schnarrte die Stimme des Mannes hinter der Tür in übertrieben lauter Stimmlage, „Die alte Villa der einstigen Familie Zitras, deren Kinder nach so langer Zeit . . .“ „Wieder Anrecht auf das Grundstück erheben !“, beendete ich seinen Satz so laut, dass es alle hören konnten und ließ die große hölzerne Saaltür hinter mir und meinem Bruder ins Schloss fallen. Der Auktionator, ein hoch gewachsener, älterer Herr mit einem in Gold eingefassten Monokel vor seinem rechten Auge, machte hinter seinem kleinen Rednerpult einen erschrockenen Satz zurück als er mich mit düsterem Blick kerzengerade durch den Saal zwischen den Zuschauerreihen auf sich zu gehen sah. Ein Raunen ging durch die Reihen. „Madame Zitras, aber Ihr ... Ihr seid doch tot ... wie könnt Ihr hier sein ... Ihr seid tot.“, stammelte der Auktionator. Er schien vor irgendetwas Angst zu haben. „Für wahr, meine Damen und Herren, unsere Eltern sind tot, doch wir nicht!“, erwiderte ich strikt, „Und ohne unser Einverständnis geschieht nichts mit der Villa!“ Ich deutete auf Johnny und mich und hielt den Schlüsselbund mit den antiken Schlüsseln so hoch, dass es alle im Raum sehen konnten. Es wurde totenstill im Saal. „Dennoch ... wir können euch das Haus nicht übergeben. Ihr ... ihr würdet es nur wieder entweihen, euer Unwesen in den Nächten treiben. Schließlich haben der Adel und ich nicht umsonst ...“, der Auktionator brach seinen Satz ab und räusperte sich. Es war offensichtlich, dass er das nicht hätte sagen sollen, denn es wurden Rufe laut, die das unbedingt unterbinden sollten. „Was haben Sie??!“, hakte ich nach, „Was war damals, dass Sie solch eine Angst vor uns haben, mich für meine Mutter halten und uns das Haus nicht überlassen!“ Alle im Saal zuckten bei dieser Frage sichtlich auf ihren Plätzen zusammen. Anscheinend gab es etwas, das damals nicht so hätte passieren sollen. Sie alle hatten schlechtes Gewissen das spürte ich. Plötzlich ergriff der Auktionator wieder mit zitteriger Stimme das Wort. „Bitte versteht uns nicht falsch, Mademoiselle.“, sagte er, „Wir hatten Angst. Für uns war das nächtliche Treiben Ihrer Eltern unheimlich. Wir normale Menschen nutzen die Nacht ausschließlich zum Schlafen. Am Tag waren Ihre Eltern kaum bis gar nicht zu sehen, das machte uns so viel Angst, das wir eines Nachts einen Späher schickten, der im Keller der Villa ein Feuer legen sollte.“ „Und Sie bezeichnen sich als normal?“, polterte ich entsetzt, „Eine unschuldige Familie einfach mitten in der Nacht in Brand zu stecken ist für Sie normal???“

*

Unfassbar. Der Brand war Absicht gewesen. Unsere Eltern wurden kaltblütig ermordet, nur weil sie hauptsächlich nachts und nicht am Tag ihr Leben lebten. Alle im Saal ließen schuldbewusst die Köpfe hängen. „Leider können wir es nicht ungeschehen machen ...“, sagte ein Mann aus der zweiten Reihe vorm Rednerpult kleinlaut. Einen Moment lang dachte ich nach, dann wandte ich mich mit der Idee die mir kam an Johnny. Er nickte. „Vielleicht können Sie es in gewisser Weise doch.“, griff ich die Worte des Mannes wieder auf, „Ich mache Ihnen einen Vorschlag.“ Langsam, wie Hunde die etwas falsch gemacht hatten und nun vor ihrem Herrchen standen, erhoben die Anwesenden des Adels ihre Köpfe und sahen mich an. Auch der Auktionator kam hinter seinem Rednerpult hervor und sah voller Angst vor dem was jetzt kommen sollte zu mir herab. Es war ein komisches Gefühl sie so zu sehen, doch ich blieb standhaft. „Wenn.“, sprach ich fordernd, „Wenn jeder einzelne Anhänger, der damals mit Schuld war am Tod unserer Eltern, mit Geld und Arbeit hilft die Villa wieder bewohnbar zu machen und zu vergrößern auf das sie in Kürze in neuem Glanz erstrahlt, könnt ihr euch als befreit betrachten. Zusätzlich, sofern die Villa vollendet ist, sind dann all jene die ich eben genannt habe und auch die restlichen Bewohner dieser Stadt an jedem letzten Sonntag des Monats zu einem Maskenball in der Villa eingeladen. Dieser wird allerdings zu einer für Sie wahrscheinlich sehr ungewohnten Zeit stattfinden, damit wir, mein Bruder und ich, Ihnen zeigen können, dass die Nacht noch viel schöner genutzt werden kann als nur zum Schlafen.“ Wieder wurde eine Welle von Getuschel laut. „Nun, was ist!?“, fragte ich fordernd, um dem Getuschel ein Ende zu setzen. Der Auktionator blickte noch einmal zögernd von einer Person zu nächsten, als wäre er sich der allgemeinen Antwort nicht wirklich bewusst. Ich sah wie mehrere Adlige unter seinem Blick ihm aufmunternd zunickten, dann übernahm er das Wort. „Mademoiselle, wir werden Ihnen helfen die Villa neu zu errichten, koste es was es wolle, wir möchten nur endlich wieder ein reines Gewissen haben.“ Er kam hinter seinem Rednerpult hervor und auf mich zu. In seiner Hand hielt er die Besitzurkunde, die er mir ohne weitere Worte übergab.

*

Erhobenen Hauptes nahm ich das Schriftstück entgegen und machte mich mit den Worten „Morgen Nachmittag um 15:00 Uhr Treffen an der Villa.“ Zusammen mit Johnny auf den Weg zurück nach Hause.

Der nächste Tag war grau und von dunklen Wolken verhangen, doch als ich mich auf den Weg zur Villa auf die andere Straßenseite machte, kam hier und da die Sonne durch. Johnny hatte sich schon am Morgen verabschiedet. Er hatte am vorigen Abend noch lange mit mir über mein Leben vor seiner Ankunft in Liscom und auch über die Beziehung zu meinem Freund geredet. Heute Morgen meinte er dann er wäre am Abend zurück und hätte noch etwas Wichtiges zu erledigen. Kaum war ich nun aus dem Haus getreten, stieß ich auch schon wie auf Kommando mit einem der Adligen aus dem Auktionssaal zusammen. „Verzeihung.“, sagte ich und sah an dem Herrn vorbei auf die andere Straßenseite. Sie waren wirklich gekommen. Vor dem Grundstück tummelte sich ein ganzes Heer von Menschen. Nun waren sie nicht mehr so herausgeputzt wie am Tag zuvor. Einfache Hemden und lange Hosen umhüllten ihre Körper und flatterten im Wind. Vorsichtig schob ich mich an dem Herrn vor mir vorbei und schritt auf die Menschenmenge zu. Als ich den Gehsteig der anderen Straßenseite betrat lächelte ich jeden Einzelnen an und grüßte alle mit einem freundlichen „Guten Tag die Herrschaften, schön dass Sie so zahlreich erschienen sind.“ Noch während sie mich ebenfalls grüßten, bildeten sie nach und nach eine Gasse und bedeuteten mir hindurch zu gehen. Ich schluckte und zog zögerlich den Bund mit den antiken Schlüsseln hervor. Schließlich stand ich vor der maroden Eingangstür. Hinter mir das Heer aus Adligen. Wie selbstverständlich nahm ich den ersten der Schlüssel am Bund, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn. Es klickte. Plötzlich fegte ein Windstoß hinter mir entlang und riss die Tür nach innen auf. Erschrocken zuckte ich zusammen. Als ich mich wieder beruhigt hatte, betrat ich das Foyer und sah mich um. Der Adel folgte mir. Beim Anblick der Asche und allem, was sich an verbrannten Dingen im Foyer befand, schienen die Adligen zu begreifen, was sie damals angerichtet hatten. Die Aufgaben verteilten sie plötzlich ganz von allein unter sich. „Das Dach und den ersten Stock müssen wir komplett neu ausbauen, das Erdgeschoss muss nur renoviert werden! Das übernehme ich.“, rief ein Herr, der soeben die löcherige Treppe herunterkam, die sich links an der Wand des Foyers befand. „Und wir kümmern uns um die Renovierung vom Erdgeschoss.“, kündigten drei andere Herren an. Mit einem Mal hielt mir ein weiterer Herr einen Bauplan vor die Augen. „Was halten Sie davon?“, fragte er freundlich. Der Plan zeigte die bereits ausgebaute Villa. „Nein, das passt noch nicht ganz.“, antwortete ich ihm nachdem ich den Plan auf das kleinste Detail genau studiert hatte. Er reichte mir einen Stift. „Dann zeichnen Sie Ihre Wünsche dazu und ich werde dafür sorgen, dass sie umgesetzt werden.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Kurzum skizzierte ich den Raum für das Foyer neu und  fügte im ersten Stock statt der vielen einzelnen Räume einen großen Saal mit Bogenfenstern hinzu, an den ein kunstvoll verzierter Balkon oder besser eine erhöhte Terrasse grenzte, die von zwei großen Engelsstatuen bewacht wurde. Der Herr staunte nicht schlecht, als ich ihm die Skizzen zeigte und ihn fragte ob das geht. Er nickte und besprach sich sofort mit den anderen Anwesenden.

*

Die nächsten vier Wochen konnte ich von meinem Zimmerfenster aus Stunde um Stunde zusehen, wie die Villa Stück für Stück in neuem Glanz erstrahlte. Im Haus werkelten die Herren, trugen Holz, Steine und allerlei Werkzeug hinein und wieder raus und im Vorgarten waren die Damen dabei über dem Weg zur Villa einen Torbogen mit Efeuranken und Rosen anzulegen. Nur als es daran ging das Innere der Villa mit Farben und Dekoration auszustatten, wurde ich noch einmal dazu geholt. Nur eins blieb so wie es war. Das alte Türschloss wurde in die neue Eingangstür eingesetzt. Ansonsten war jetzt alles neu. Und genau einen Tag vor dem letzten Sonntag des Monats klingelte es plötzlich am Nachmittag an der Tür zum Haus meines Adoptivvaters. „Ich geh schon!“, rief ich meinem Bruder und meinem Adoptivvater zu, die im Wohnzimmer saßen, und stolperte zur Tür. Als ich sie geöffnet hatte, starrte ich in das Gesicht von dem Herrn, mit dem ich am Tag des Baubeginns zusammen gestoßen war. „Guten Tag.“, sprach er höflich und grinste, „Wir sind nun fertig mit der Wiedererschaffung der Villa.“ „Wunderbar.“, erwiderte ich, „Dann dürfen Sie und der Rest des Adels nach Hause gehen. Die Einladung zum ersten Maskenball in der Villa wird schon morgen den Weg zu jedem Einzelnen von Ihnen finden.“ Er nickte und ging. Kaum war er fort schloss ich die Tür und lief hinauf in mein Zimmer, um die Villa anzusehen. Am Fenster traute ich meinen Augen nicht. Die Villa stand dort, als wäre nie etwas passiert und doch war sie größer und schöner. Nun konnte der Ball kommen. Der Moment von dem ich immer geträumt hatte. Während ich da nun so verträumt hinüber schaute, suchte ich mir Stifte und mein Briefpapier, wie auch ein kleines Siegel und das dazu gehörende Wachs zusammen und schrieb die Einladungen an die Adligen. Es dauerte sehr lange, obwohl ich eigentlich recht schnell schrieb. Als alle Einladungen geschrieben und versiegelt vor mir auf dem Bett lagen, stopfte ich sie in eine Tasche und ging hinaus, um sie zu verteilen.

Das Verteilen ging zügiger voran als ich zu Anfang dachte. Ich brauchte nur eine Stunde um durch die  gesamte Stadt zu laufen. Dennoch war ich froh wieder zu Hause zu sein, als ich nach dieser einen Stunde die Stufen der Treppe zu meinem Zimmer hinauf stieg und meine Tasche auf eine der Stufen fallen ließ. Erschöpft fiel ich vornüber auf mein Bett und schlief so wie ich war ein.

*

Der nächste Morgen kam schnell.

Für mich zu schnell. Irgendwo in der Ferne klang ein Klopfen wage an mein Ohr und hallte darin wieder. Ich räkelte mich. Das Klopfen wurde beständiger und klarer. Als ich die Augen langsam öffnete, wurde mir klar, dass das Klopfen aus der Richtung meiner Zimmertür kam.

Vorsichtig begann ich mich zu erheben. Benommen taumelte ich wenig später zur Tür und drückte die Klinke hinunter. Kaum war die Tür offen, trat Johnny herein und drückte mir einen länglichen flachen und einen etwas breiteren Karton in die Hände. Dann schloss er die Tür hinter sich und meinte es sei schon spät. „Was ist das?“, fragte ich ihn. „Dein Gewand für heute Nacht, Luna.“, erwiderte er und schmunzelte, „Oder hast du vergessen dass heute der erste Maskenball drüben in unserer Villa stattfinden soll?“

Plötzlich war ich hellwach. Der Ball. Natürlich. Hektisch huschte ich durch mein Zimmer. „Wozu der Stress?“, fragte Johnny, „Ich hab schon alles organisiert. Mach dir keine Sorgen.“ „Aber ... aber was ist mit dem Buffet für die Gäste? Mit Musik? Mit Dekoration?!“, stammelte ich. –„ Es ist alles geregelt.“ –„Ok.“

Langsam beruhigte ich mich wieder. Ich sah auf die Uhr. 19:30 Uhr. Unschlüssig betrachtete ich die Kartons, die ich in meinem plötzlichen Hektikanfall auf den Boden geschmissen hatte. Johnny schien mein Zögern bemerkt zu haben, denn er schnappte sich den breiteren der zwei Kartons, hielt ihn mir hin und nahm den Deckel ab. Solch ein dunkles Rot wie das, was nun den Karton füllte, hatte ich noch nie gesehen. Ganz behutsam, so als würde er jeden Moment in meiner Hand zu Staub zerfallen, griff ich nach dem schimmernden roten Stoff und zog ihn heraus. Leicht wie die Bewegungen einer Schlange glitt der Stoff aus dem Karton und formte ein langes Kleid in meinen Händen, das einer Prinzessin hätte würdig sein können. Sofort schlüpfte ich hinein. Johnny öffnete den anderen Karton und zog eine schmale Maske in genau der selben Farbe heraus, wie das Kleid. Auch sie fand schnell den Weg auf mein Gesicht.

Später. Es war so gegen halb 1 nachts, da begrüßte ich die letzten Gäste in der Villa und eröffnete das Fest. Zuerst waren viele Adlige sehr zögerlich, doch als sich der Saal bereits zum dritten Mal mit den Leuten zum Tanz füllte, verloren sie immer mehr ihre Scheu und wurden ausgelassener. Eine Weile stand ich nur am Rand und sah zu wie die Paare tanzend durch den Saal wirbelten. Bis vor mir ein junger Mann stand und mich zum Tanz aufforderte. Als wir tanzten war er mir so sonderbar vertraut, doch ich wusste nicht warum. „Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?“, fragte er mich nach einer Weile. „Ich mich melden? Wieso?“, erwiderte ich. Er nahm die Maske ab, die er im Gesicht trug. „Sag bloß du hast mich vergessen!“, sagte er und sah mich an. „Jean!“, rief ich überrascht aus. –„Und? Warum? Nun sag schon.“ Ich wurde rot. „Weil ich dachte dass du nicht mehr mit mir zusammen sein willst wenn du es erfährst.“ Er grinste. „Safira ...“; sagte er, „ Mir ist egal ob du zum Adel gehörst oder nicht. Ich liebe dich !

Das war es also. Johnny hatte meinen Freund eingeladen ohne dass ich es wusste.

 

- Ende -

 

 

©Sabrina Goebel



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