Der unstimmbare Flügel

Ich könnte euch jetzt erzählen von Zauber und Magie, von Glaube und Hoffnung und allem was dazu gehört.

Doch all das ist Schall und Rauch wenn ihr hört was ich gesehen habe. Wir sind nur eine kleine gemeinde. Es hat lange gedauert bis wir für unsere Kirche einen Ersatz-Flügel gefunden haben. Im Sommer war unsere Orgel kaputt gegangen, sodass wir gezwungen waren Ersatz zu finden. Und das ist schon ein Kunststück für eine Gemeinde, die in einem halben Jahr nicht viel sammelt.

Auch mit der Kollekte zusammen waren schlussendlich nur 500 Taler zusammen gekommen. Jedes Musikgeschäft wurde abgeklappert.

Nichts lag in der Preisklasse. Schließlich brach die Vorweihnachtszeit an. Nur einen Tag bevor sich der Kunst und Kultur Verein erneut zusammen setzen wollte um über die Absage der Weihnachtsfeier an Heiligabend zu beraten, geschah eine Überraschung.

Der Ortsansässige Instrumenten-Verkäufer stellte der Kirche einen alten Flügel zur Verfügung, den er selbst einst geerbt hatte.

Als er auf ihm spielte klang er auch geradezu wundervoll und wir bedankten uns bei ihm. Doch dann, am Tag vor Weihnachten, stellte sich Entsetzen ein. Der Kanton versuchte auf dem goldenen Flügel "Stille Nacht" anzustimmen doch es kam nur ein total schräges Quietschen und Knarzen dabei heraus. Die wenigen Töne die er erzeugen konnte klangen blechern und hallten ewig von den Kirchenwänden wieder. Nach einer halben Stunde gab er es auf. Noch nie zuvor hatte ein Instrument ihm den Dienst verweigert.

Das zerriss ihn innerlich. Mit Tränen in den Augen rannte er zur Vordertür hinaus. Alle fragten sich ob der Flügel die Kälte der Kirche nicht vertrug und probierten es selbst. Sogar ein örtlicher Klavierstimmer wurde in die Kirche zitiert. Doch es half alles nichts. Entweder war der Flügel kaputt gegangen oder er wollte einfach nicht gespielt werden.

Und so kam es, dass wir den heiligen Abend ohne Musik begehen mussten.

Das glaubten wir zumindest. Aufgeregt betrat ich die kleine Empore und bereitete mich darauf vor bei meinem Auftritt nur meine Stimme zu hören. So war es auch bis zum ersten Halleluja. Was dann geschah glich einem Wunder. Es saß niemand am Flügel doch er spielte. Sein himmlischer Klang beflügelte mich und passte sich exakt an meine Stimme an. Die Töne durchfluteten mich. Sie drangen tief hinab in mein Herz und ließen es erglühen. Ich nutzte die Gunst der Stunde und stieg, weiterhin singend, herab zum Flügel.

Sanft ließ ich meine Hand über seinen Korpus streichen. Egal was ich machte, solange er meine Stimme vernahm, spielte er weiter.

Erst als ich mich auf den Schemel vor ihm gesetzt hatte, verstummte er. Natürlich, ich sang ja auch nicht mehr. Ehrfürchtig legte ich meine Finger auf die Tasten. "Ave Maria", zeigten die Noten auf dem Brett. Also schön, dachte ich, bitte enttäusch mich nicht. Und er enttäuschte mich wirklich nicht. Der Flügel ließ sich von mir spielen. Kein blecherner Unterton, gar nichts. Er erklang in den schönsten Tönen die ich je gehört hatte. Jäh schlug die Vordertür der Kirche auf. Eine beinahe magische Männerstimme sang zu meinem Spiel. Ich erschrak und nahm die Hände vom Flügel. Das himmlische Instrument vor mir spielte dennoch weiter.

Die Seiten mit den Noten schlugen sich selbst um. Und dann offenbarte mit der schöne Tastentöner in Flügelform sein Geheimnis. Im Notenbrett war eine Gravur eingebettet, die besagte, das nur wer ein reines Herz und eine goldene Stimme besitzt, diesen Flügel zu spielen vermochte. Unterschrieben war mit H. Marlekin. Auch auf der Rückseite des Notenheftes war der Name Horatia Marlekin zu lesen.

Inzwischen war der singende Mann bei mir am Flügel angekommen.

Fassungslos sah ich zu ihm herüber, wie er da stand mit weit geöffneten Armen, um mich zu empfangen.

Er, der Instrumenten-Händler der Gemeinde. Seine Augen leuchteten im Licht der Kerzen wie Rubine im Sonnenschein, als er mir direkt in die Augen sah und mit seiner tiefen Stimme sagte:

"Frohe Weihnachten, kleine Schwester."

©Sabrina Goebel